1. KAPITEL
Als Brock Warner am Sonntagnachmittag ihr Krankenhauszimmer betrat, spürte Kylie einen Moment lang Panik in sich aufsteigen. Sie saß fertig angezogen auf einem Stuhl am Fenster, und ihre Tasche stand gepackt neben ihr. Der erzwungene Aufenthalt im Krankenhaus hatte ihr seit Freitag viel Zeit gelassen, um die Begegnung mit Trish Hammond in der Erinnerung immer wieder zu durchleben. An fast nichts anderes hatte sie in diesen Tagen gedacht als an die Untreue ihres Mannes.
Und hier tauchte wie aus dem Nichts sein beinahe verschollener Halbbruder auf! Wie hatte er von ihrem Unfall erfahren? Wollte er sie jetzt dazu überreden, Saddle Ridge zu verkaufen?
„Was machst du denn hier?“ Die Frage war ihr einfach so entschlüpft. Kylies Gefühle lagen blank.
Brock schob seinen schwarzen, breitkrempigen Hut etwas höher und blieb zwei Schritte vor ihr stehen. „Dix hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen um dich“, antwortete er ruhig.
„Mir geht es prima“, erklärte sie fest. Der alte Dix, ihr Vorarbeiter, hätte sich da nicht einmischen sollen!
„So siehst du aber nicht aus.“ Brocks ausdrucksvolle schwarze Augenbrauen gingen in die Höhe, als er die Armschlinge und die dicke Beule an ihrer Stirn betrachtete.
Das Apachenblut ihres Schwagers machte sich in dem samtenen Ton seiner Haut bemerkbar, in seinen tiefdunklen Augen und dem fast blauschwarzen Schimmer seines Haars. Wenn er ging, sprach oder lächelte, strahlte Brock Warner eine Sinnlichkeit aus, wie Kylie sie bei wenigen Männern gesehen hatte.
Es hatte sie durcheinandergebracht und kribbelig gemacht, als sie ein Teenager war … und tat es jetzt immer noch. Plötzlich war jener Abend wieder da, an dem sie ihren Highschool-Abschluss gefeiert hatten, jener Abend, an dem sie ihn geküsst hatte und …
Schnell schüttelte sie die beunruhigenden Erinnerungen ab und stand vorsichtig auf. „Es tut mir leid, dass Dix dich extra hergeholt hat … wo auch immer du gewesen bist.“
„Texas“, antwortete Brock knapp.
„Seit wann bist du hier?“, fragte Kylie vorsichtig, während sie ihn unwillkürlich musterte. Sie hatte Brock seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Damals war er zu Jack Warners Beerdigung angereist – in Begleitung der Frau, die er kurz zuvor, fern von allen, geheiratet hatte.
„Seit einer guten Stunde“, entgegnete Brock auf ihre Frage. „Dix sah müde aus, also habe ich ihm angeboten, dich abzuholen.“
Dix war zu müde gewesen? Kylies Ärger darüber, dass er einfach die Initiative ergriffen und ohne ihr Wissen Brock benachrichtigt hatte, verrauchte. Dix war ein alter Freund ihres Vaters und auf seine ruhige Art immer für sie dagewesen, seit sie damals nach Saddle Ridge gekommen war. Zu zweit hatten sie beide schon lange vor dem Tod von Alex versucht, die Ranch ohne Hilfe von außen in Gang zu halten – und umso mehr nach dem Tod ihres Mannes.
Brocks Blick wurde weicher, und er ließ ihn von Kylies offenem blondem Haar zu ihrem Umstandskleid wandern. „Es tut mir leid, was passiert ist.“
Das hatte er auch am Telefon gesagt, nachdem er die Beerdigung seines Bruders verpasst hatte. Brock war irgendwo in Lateinamerika mit seiner Arbeit als Geologe beschäftigt gewesen und hatte über eine Woche lang keine Nachrichten erhalten. Zu spät hatte er sich bei Kylie gemeldet und von dem Rodeo-Unfall erfahren.
Zu dem Zeitpunkt hatte Alex schon unter der Erde gelegen, und Kylie hatte Brock nicht vom desolaten Zustand der Ranch erzählen wollen. Damals am Telefon hatte sie Brock erklärt, sie sei zwar schwanger, habe aber alles bestens im Griff.
„Mir tut es auch leid“, sagte sie leise. Kylie wusste, dass Brock und sein Bruder sich einst sehr nahegestanden hatten.
„Ich hätte mich öfter mal melden sollen“, bemerkte Brock, und sie hörte das aufrichtige, tiefe Bedauern in seiner Stimme.
Der Riss in Kylies Herz wurde noch ein wenig tiefer, als sie an ihr eigenes letztes Zusammensein mit Alex dachte. Danach war er überstürzt zu seinem letzte