Kapitel I
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.
Eine Geschichte, die Sie so noch nicht kennen.
Sollten Sie bislang keine Angst vor der Dunkelheit haben, die mehr ist als Schwärze in der Nacht oder das bloße Fehlen von Licht, wird sich das ändern. Und wenn Sie glauben, Sie seien schreckhaft, wird Ihre Furcht wachsen.
Denn sämtliche Wesen, die Sie aus Horrorfilmen, alten Büchern und Märchen kennen, existieren. Diese und mehr. Sowohl die guten als auch die schlechten Kreaturen. Verborgen und doch vor Ihren Augen. Manche wenige Auserwählte kennen und erkennen sie, aber die meisten Menschen der Moderne sind ahnungslos …
Wer ich bin?
Das erfahren Sie früh genug oder werden es sich ab einem gewissen Punkt der Erzählung denken können.
Meine Geschichte beginnt in Deutschland, in der Stadt Leipzig, und noch genauer in Schleußig, einem Stadtteil, in den man als Tourist eher selten gerät. Die meisten besuchen das Zentrum mit seinen Gässchen und Höfen, schauen sich Museen und das Völkerschlachtdenkmal an, lassen weder Auerbachs Keller noch den Steilen Zahn aus, wie das Hochhaus genannt wird, das abends rot beleuchtet in den Himmel sticht, und erkunden den Zoo. Dabei ist Leipzig so viel mehr, würde meine Tochter jetzt sagen.
Mir gefällt die Stadt nicht. Aber das liegt daran, dass ich keine guten Erinnerungen an sie habe. Doch das ist eine andere Geschichte.
Nehmen Sie sich ein gutes Getränk Ihrer Wahl, suchen Sie sich einen gemütlichen Platz, mit dem Rücken zur Wand und den Blick auf Türen und Fenster, und folgen Sie meinen Worten.
Sie werden Ihnen zeigen, dass … nein, ich verrate lieber nicht mehr.
Nur eines noch: Achten Sie auf die Schatten in Ihrer Umgebung!
Geneve Cornelius blätterte die vollgeschriebene Seite des Notizblocks um, der auf dem antiken Schreibtisch lag, und warf einen Blick in das aufgeräumte Behandlungszimmer.
Es sah etwas anders aus als die Räume, in denen Geneves Kollegen in der Naturheilkunde ihre Patienten empfingen. Die Liege, die Schränke mit den Milchglasfenstern, in denen die verschiedenen Tinkturen, Salben, Einreibemittel und Arzneien lagerten – die gesamte Einrichtung erinnerte an ein Museum oder eine auf alt getrimmte Gastwirtschaft. Die moderne Wandgestaltung sowie die indirekte Beleuchtung durch seitliche Wandspots hingegen brachen das gepflegte Altertümliche und erschufen einen spannenden Kontrast; so stand auch neben dem Notizblock ein Laptop der neusten Generation.
Geneve, eine brünette Frau mit dem Äußeren einer Dreißigjährigen, erhob sich und öffnete die bodentiefen Fenster, um frische Luft hereinzulassen.
Sofort drang das niemals endende Geräusch von fließendem Wasser herein. Die Weiße Elster zog unmittelbar am Haus vorbei, in dem Geneve lebte und ihre Praxis betrieb. Kinderlachen tönte vom benachbarten Spielplatz herüber, Kanus zogen über den träge gleitenden Fluss, die Ruderer folgten den lauten Anweisungen ihrer Trainer. Hunde bellten, es wurde gerufen und gelacht.
Geneve lächelte in die Sonnenstrahlen und atmete tief ein. Sie richtete ihre Kleidung, die eine Nummer zu groß und damit sehr bequem war, dann wandte sie sich um, ging zur Tür und drückte die Klinke hinab.
Freundlich schaute sie ins Wartezimmer, in dem eine ältere Dame saß und strickte. Ein Babyschühchen. »Was machen die Schmerzen, liebe Frau Tirinack? Haben sie wie versprochen nachgelassen?«
Die Frau, gekleidet in Rentnerbeige mit einem bunten Schal als Accessoire, erhob sich und verstaute dabei Nadeln sowie Wolle in ihrer großen Handtasche. »Ich weiß ja, Sie haben mir das alles erklärt, was in meiner Salbe drin ist. Verstanden habe ich es nicht, aber schauen Sie mal.« Sie streckte die Arme aus, ging langsam in die Knie und kam wieder hoch, runter und hoch, runter und hoch.
Geneve lachte. »Das ist ganz großart