120 STUNDEN DAVOR
Ich bin die ungekrönte Kofferpack-Königin. Wenn ich etwas beherrsche, dann das. Nicht umsonst habe ich ganze Abende vor dem Bildschirm verbracht und einer japanischen Influencerin dabei zugesehen, wie sie zehn Kimonos in einem Kosmetikbeutel verstaut. Das ist so eine Art Houdini-Trick, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Es geht nicht darum, Dinge zu befreien, sondern sie so klein wie möglich zu falten und anschließend in einem viel zu kleinen Behältnis zu verstauen.
Die Influencerin sieht keinen Tag älter aus als zwölf. Sie ist zerbrechlich und zart wie eine Kirschblüte, aber überaus gewieft – so mir nichts dir nichts kriegst du nicht hundert Millionen Follower. Jedenfalls besteht der Trick darin, die Kleidungsstücke fest einzurollen und diese Baumwoll-Maki anschließend gemäß eines hochkomplexen Ordnungssystems zu schichten, sodass am Ende kein Luftmolekül mehr im Koffer Platz hat.
»You see«, zwitschert sie in ihrem entzückenden Englisch und deutet auf ihre winzige Kosmetik-Tasche, in der sie soeben den neunten Kimono versenkt hat, »this is pelfect!«
Ich wähle den mittelgroßen lila Trolley. In Apulien ist Sommer, viele Baumwoll-Maki werde ich nicht rollen müssen. Herrlich! Mein Herz hüpft vor Freude, wenn ich daran denke, dass ich bald in Sandalen und luftigem Kleidchen am Meer stehen werde, Sonne im Herzen, ein Glas Primitivo in der Rechten, während Rocco Minelli mir was Romantisches ins Ohr säuselt. Gut, er wird fünfzigtausend Frauen und einigen vereinzelten Männern gleichzeitig etwas ins Ohr säuseln, aber das tut meiner Freude keinen Abbruch.
Ich wühle in den Kisten, in denen ich die Sommerkleidung verstaut habe, rolle Tops und sogenannte »Freizeit-Hosen« mit hohem Stretch-Anteil und Gummizug zu perfekten Maki und lege sie in den Koffer.This is pelfect!
Ob mir das Hängerchen mit den aufgestickten Blumen noch passt? Ziemlich kurz, das Teil. Darf man das mit beinahe fünfzig noch? Mini tragen? Ach was, ich bin eine emanzipierte Frau, die nichts auf Kleidervorschriften gibt. Einfach mal probieren. Also raus aus Jeans und Shirt, rein ins Hängerchen. Dabei summe ich mein Lieblingslied von Rocco Minelli vor mich hin:Nel tuo cuore non hai mai più di vent’anni. Im Herzen bist du nicht älter als zwanzig. Hach! Er hat recht, der gute alte Rocco, der kürzlich seinen Fünfundsiebzigsten gefeiert hat. Innerlich kriegt man keine Falten und keine Besenreiser. Das Innere bleibt intakt und braucht weder Creme noch Botox. Ewig jung. Das Drama tritt ein,