InhaltsverzeichnisKapitel 19
Eine kleine Stimme in Noras Kopf flüsterte, dass es vollkommen wahnsinnig war, zu Johanna Strand zu gehen. Sie hatte nichts mit dem Fall zu tun, das war Sache der Polizei. Es stand ja noch nicht einmal fest, dass es Astrids Leiche war, die man gefunden hatte.
Trotzdem lenkte sie ihre Schritte Richtung Seglerdorf.
Sie hatte Mina nicht helfen können, aber vielleicht konnte sie etwas für Astrid tun?
Das Bild von Astrids Gesicht verschmolz mit dem von Mina. Beide hatten langes blondes Haar mit Strähnen, die sich um die Stirn lockten. Ein schönes Lächeln, das von Kummer und Wehmut getrübt wurde.
Minas trauriges Schicksal und ihr eigenes Versagen lagen wie eine ständige Last auf ihren Schultern. Ein unsichtbarer Begleiter, der sie den ganzen schweren Sommer hindurch verfolgt hatte. Vielleicht würde es sie erleichtern, wenn sie sich für Astrid ins Zeug legte, wenn sie sich auf etwas anderes konzentrierte als auf ihre eigenen Sorgen?
Sie wollte es wenigstens versuchen. Sie konnte nicht einfach die Augen davor verschließen.
Das Seglerdorf lag am Hang oberhalb des Seglerhotels. Knapp dreißig kleine hellgrüne Holzhäuser, die in den Dreißigerjahren gebaut worden waren. Ursprünglich hatten sie als Unterkünfte für die Teilnehmer an den Regatten desKSSS gedient, da man auf den Segelrennbooten damals nicht übernachten konnte. Inzwischen waren alle Häuser um- und ausgebaut, mit den genialsten Konstruktionen, um zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, obwohl es keinen Platz dafür gab.
Nora wusste ungefähr, wo das Haus der Strands lag, in der dritten Häuserreihe vom Hafen aus gesehen. Als sie ankam, stand die Haustür wegen der Sommerhitze weit offen. Ebenso wie bei den anderen Häusern gab es einen Anbau und eine kleine Terrasse, auf der mehrere Töpfe mit weißen und gelben Blumen standen. Sogar eine Hängematte war aufgespannt, im Schatten eines einsamen Baums, der im Sand wuchs.
Nora betrat die hölzerne Terrasse.
»Hallo?«, rief sie vorsichtig. »Ist jemand zu Hause?«
Halb wünschte sie, niemand würde antworten. Dann könnte sie umkehren und weggehen. Den Impuls unterdrücken, sich einzumischen. Nach Hause gehen und das Picknick für Alskär vorbereiten, das Julia sich erbettelt hatte.
Wieder einmal die Gedanken an Astrid verdrängen.
Stattdessen hob sie die Hand und klopfte an die Tür.
»Wer ist da?«, antwortete eine Stimme.
Sekunden später tauchte Johanna Strand an der Schwelle auf. Heute hatte sie das lange blondierte Haar zu einem nachlässigen Knoten gebunden.
In ihren abgeschnittenen Shorts ähnelte Johanna beinahe dem jungen Mädchen, das sie gewesen sein musste, als Astrid verschwand. Aber die Gesichtszüge waren müde, mit feinen Linien um die Augen.
»Hallo«, sagte Nora.
Die Worte klebten ihr auf der Zunge fest. Wie sollte sie Johanna erklären, was sie wollte? Sie hatte hier nichts zu suchen.
»Ja bitte?«
Johanna betrachtete Nora verblüfft und wartete auf die Fortsetzung.
Entweder musste sie eine Erklärung liefern oder wieder gehen.
»Ich habe einige Fragen, die Astrid Forsell betreffen«, bekam Nora schließlich heraus.
»Astrid?«
Johanna erstarrte.
»Hat es was mit … Telegrafholmen zu tun?«, fragte sie und zeigte zur Insel.
Nora nickte.
»Entschuldigung, wie war Ihr Name noch gleich?«, fragte Johanna. »Ich kenne Sie, aber …«
»Ich heiße Nora Linde.« Nora zögerte. »Ich bin Anklägerin bei der Behörde zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität«, fügte sie hinzu.
Sollte Johanna doch ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Die junge Frau sank auf einen der Rattanstühle, die auf der Terrasse standen.
»Ist es Astrid, die man auf Telegrafholmen gefunden hat?«, flüsterte sie.
Nora nahm ihr gegenüber Platz.
»Um das zu sagen, ist es noch zu früh«, erwiderte sie und blieb, zumindest was das betraf, bei der Wahrhei