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Alle waren ihr auf den Leim gegangen. Niemand hatte das Ungeheuerliche bemerkt, und sie war durchgekommen. Fast. Da war immer noch dieses juckende Gefühl, ein kleiner Rest Unsicherheit, der einfach nicht verschwinden wollte. Es gab keinen Zweifel,sie war noch irgendwo da draußen. Was, wenn sie zurückkommen würde? Wenn sie ihr neues Zuhause finden würde? Um abzurechnen.
Caroline hatte vorgesorgt. Das alte Backsteinhaus war ideal, um unterzutauchen, es lag am anderen Ende der Stadt, wo niemand sie kannte und niemand Fragen stellte. Es sollte ihre Trutzburg werden. Und dennoch war die Angst mit umgezogen. Etwas in ihr ahnte, dass sie auch hier nicht sicher sein würde, nicht heute, nicht morgen, nicht bis an ihr Lebensende.
Nach dem Einzug hatte Caroline versucht, sich mit Renovierungen abzulenken, und sie war selbst überrascht gewesen, wie sehr sie darin aufging. Sie hatte ihre Leidenschaft für Baumärkte entdeckt, sich nächtelang durch Tutorials gearbeitet und nach und nach den heruntergekommenen ersten Stock mit neuen Holzdielen, neuen Fußleisten und gestreiften Tapeten in eine gemütliche Wohnung verwandelt. Hilfe hatte sie nicht gewollt, weder vom Vermieter im Erdgeschoss noch von den Kollegen und schon gar nicht von unbezahlbar teuren Handwerkern. Caroline wollte ungestört sein, allein mit ihrem Baby, das während der Bauarbeiten auf einer kleinen Matratze neben der provisorischen Werkbank lag, ihr beim Spachteln, Schrauben und Streichen zuschaute und ab und zu mit seinen wedelnden Armen die Glöckchen erklingen ließ, die über ihm von einem Gestell herabbaumelten.
Als der Sommer gekommen war, nahm sie sich das dunkle Dachgeschoss vor. Sie warf das alte Gerümpel auf den Sperrmüll, schliff die wurmstichigen Holzdielen ab und versiegelte sie mit Leinöl, sie riss die schimmelige Holzvertäfelung von der Dachschräge und nagelte Gipskartonplatten vor die neue Dämmung.
Jetzt, nach mehr als einem halben Jahr Arbeit, legte Caroline die Malerrolle beiseite und beobachtete zufrieden, wie das Licht der Nachmittagssonne durch das weiß gestrichene Dachgeschoss strahlte. Sie drehte die Musik aus dem Kofferradio lauter, nahm ihr Baby von seiner Matratze hoch und tanzte mit ihm durch den Duft der frischen Farbe, bis der Kleine vor lauter Glucksen einen Schluckauf bekam. Die Musik erstarb, es folgten die Nachrichten. Caroline legte ihr Kind zurück und drückte den Deckel auf den Farbeimer. Im Hintergrund hörte sie die Stimme der Nachrichtensprecherin: »Am Mittag kam es im deutsch-belgischen Grenzgebiet zu einer schweren Explosion. Nach noch unbestätigten Berichten ereignete sich die Detonation in einem abgelegenen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, der einer mutmaßlichen Terrorgruppe als Sprengstoffversteck diente. In dem unwegsamen Waldgebiet findet zurzeit ein Großeinsatz von Polizei und Feuerwehr statt, das Gebiet ist weiträumig abgeriegelt. Die Behörden bitten darum, die umliegenden Landstraßen …«
Die Worte der Sprecherin verschwammen in Carolines Ohren, Bilder schwirrten durch ihren Kopf: Kolonnen mit Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei. Hubschrauber. Hundertschaften, die in schweren Stiefeln durch den Wald stapften, in voller Montur, mit schuss- und stichsicheren Westen, Maschinenpistolen, Hunden. Keiner der Kollegen würde wissen, was ihn erwartete. Jederzeit konnte einer von ihnen zur Zielscheibe werden. Ein Job ohne Gewähr, dachte sich Caroline im Stillen und wickelte die Malerrolle in Frischhaltefolie.
Auch sie hatte auf ihren Streifengängen immer eine Waffe und die Weste getragen. Rund um den Bahnhof gab es genug Durchgeknallte, die urplötzlich auf sie losgehen konnten, mit einem Messer, einer Spritze oder den blanken Fäusten. S