Prolog
Er hatte immer gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde. Der Tag des Jüngsten Gerichts. Die große Abrechnung. Das Urteil, das schon sein ganzes Erwachsenenleben wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Viele Jahre hatte er seine Schuld abgestritten. Jede wache Minute hatte er versucht zu beweisen, nicht getan zu haben, was man ihm vorwarf, und Wiedergutmachung geleistet. Denn er hatte es getan. Beinahe war es ihm gelungen, sich selbst zu überzeugen, dass nichts davon geschehen war. Er hatte sich seine eigene Wahrheit geschaffen, und an der hielt er fest mit der Verzweiflung eines Mannes, der wusste, dass sein Leben davon abhing.
Doch während er die Dummköpfe – und vielleicht auch das eigene Gewissen – hinters Licht führen konnte, ließ sich das Schicksal nicht täuschen. Das Untier, das in seinem Inneren lauerte und vor dem er so lange weggerannt war, hatte ihn schließlich eingeholt.
Warum er dem Treffen zugestimmt hatte, war ihm nicht klar. Irgendein innerer Zwang. Wohl auch Neugier. Oder aber die irrsinnige Vorstellung, die Wahrheit zu sagen mache ihn frei. Doch was wusste ein Meisterlügner schon von Wahrheit? Vielleicht war das Bedürfnis, es zu Ende zu bringen, ein für alle Mal einen Schlussstrich zu ziehen, ebenso einfältig, wie zuzugeben, dass er verdiente, was immer auch passieren würde.
Komm zur Windmühle. Um Mitternacht. Komm allein.
Es war die dritte Nachricht dieser Art in zwei Wochen. Gewöhnliche Menschen würden solche Aufforderungen ignorieren oder in den Müll werfen, Unschuldige würden sie der Polizei übergeben. Aber er war kein gewöhnlicher Mensch, sosehr er es auch glauben wollte. Und ganz bestimmt war er nicht unschuldig. Nein, dachte er düster, das nicht. Er musste mit dem Problem umgehen, sich ihm stellen und es endgültig aus der Welt schaffen. Die Dinge wieder in Ordnung bringen, falls das irgendwie möglich war. Und es dann ein für alle Mal ad acta legen.
Doch wie konnte jemand davon wissen? Wie konnte jemand in seiner Vergangenheit das entdecken, was er so akribisch verborgen gehalten hatte? Aber die eigentliche Frage, die ihn seit der ersten Nachricht am meisten ängstigte und jede Nacht wachhielt, war: Wie konnte sich jemand an etwas erinnern, das er selbst so gut wie vergessen hatte?
Ich weiß, wer du bist. Ich weiß, was du getan hast. Ich kenne deine Geheimnisse. Alle.
Seit Tagen wurde er von diesen Worten gepeinigt. Er hatte weder gegessen noch geschlafen und war keinen Moment lang zur Ruhe gekommen. Verzweifelt wollte er glauben, die Bedeutung, die Absicht der Nachrichten falsch interpretiert zu haben; dass der Grund für die mysteriösen Worte ein belangloser Vorfall oder aber ein banaler Ausruf gewesen war, mit dem er jemanden in der Gemeinde provoziert hatte. Konnte es sein, dass er etwas in sie hineinlas, was gar nicht gemeint war?
Nein, dachte er, als er am südlichen Rand des Waldes entlanglief, diese Worte waren nicht falsch zu verstehen. Aber richtig oder falsch oder etwas dazwischen, er musste der Sache auf den Grund gehen – sie beenden, bevor die Situation außer Kontrolle geriet –, und das ging nur auf eine einzige Weise.
Der Wind rüttelte an den Blättern der Bäume, schnitt eiskalt durch Jacke und Kleider. Die alte Farm lag ziemlich weit weg, und er war froh, den Spazierstock mitgenommen zu haben. Auch eine Laterne ha