2. KAPITEL
Am zweiten Tag des furchtbarsten Sturms, den Claire je erlebt hatte, hielt sie es nicht mehr aus. Sie hatte sich nicht ein einziges Mal vor die Tür gewagt. Der Wind war so stark, dass sie manchmal fürchtete, das ganze Haus würde davongeweht.
„Keine Angst, Rocky“, hatte sie den kleinen Hund beruhigt, als der sich beim Heulen des Sturms ängstlich verkriechen wollte. „Wenn wir wegfliegen, dann fliegen wir zusammen.“
Aber so weit war es glücklicherweise nicht gekommen, und langsam begann der Sturm nachzulassen. Hin und wieder wagte sich sogar ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Es wurde Zeit, einmal hinauszugehen und die Schäden zu inspizieren.
Kaum hatte sie die Tür geöffnet, bereute sie ihren Entschluss bereits, doch für einen Rückzug war es zu spät. Rocky war schon hinausgeschossen, glücklich, endlich der Enge des Hauses zu entkommen.
Das Meer würde bestimmt fantastisch aussehen. Sie musste nur nahe genug herankommen. Bei gutem Wetter hatte sie sich gern in der kleinen Bucht unterhalb der Klippen aufgehalten. Dorthin strebte sie nun, um zu sehen, was der Sturm angerichtet hatte.
Sie hatte alles andere erwartet als ein Schiff … oder jedenfalls Teile eines solchen? Sie blieb wie gebannt stehen und wagte kaum zu atmen. Wind und Wellen hatten eine kleine Jacht auf den vorgelagerten Felsen zerschmettert. Der Segler schien versucht zu haben, die relative Sicherheit des Strandes zu erreichen, doch er hatte es nicht an den Felsen vorbei geschafft.
Du lieber Himmel, war dort etwa noch jemand? Tatsächlich! Sie sah etwas Gelbes im Wasser blitzen. Weit draußen zwischen dem Felsen und dem Strand trieb eine Gestalt im Wasser.
Claire wusste, wie tückisch dieses Gewässer war. Durch die besondere Formation zwischen der engen Bucht und den vorgelagerten Felsen entwickelte sich bei Flut eine starke, seewärts gerichtete Strömung.
Der Schiffbrüchige war dabei, geradewegs hineinzuschwimmen. Nur wenn er sich seitwärts davon entfernte, hatte er eine Chance.
Schreien hatte keinen Zweck. Der Wind heulte noch immer um die Felsen, und die Gestalt war zu weit draußen, um sie zu hören.
Sollte sie die Heldin spielen? „Auf keinen Fall!“, rief sie laut gegen den Wind, aber manche Dinge sind nicht verhandelbar. Sie konnte einem Menschen nicht ruhigen Gewissens beim Ertrinken zusehen.
„Du weißt, wo das Hundefutter steht“, erklärte sie Rocky und schlüpfte aus ihren Stiefeln. „Wenn ich nicht wiederkomme, sag allen, dass ich den Heldentod gestorben bin.“
Das allerdings hatte sie nicht vor. Sie würde sich nah an den Felsen halten, wo die Strömung am geringsten war. Auf dem hastig abgelegten Mantel landeten der Pullover und die Jeans.
Raoul kam nicht voran. Die Strömung zog ihn schneller hinaus aufs Meer, als er schwimmen konnte. Er spürte, dass er gegen den Strom nicht ankam. Also musste er ihm nachgeben und sich mitziehen lassen, bis der Sog nachließ.
Allerdings war er inzwischen ziemlich erschöpft. Die Jacht war nicht mehr als ein treibender Trümmerhaufen gewesen. Das Segel hing in Fetzen, und der Motor war viel zu schwach, um das Boot damit zu kontrollieren. Am Ende hatte eine weitere gewaltige Welle dem Boot den Rest gegeben.
Es war kieloben auf dem Felsen gelandet und dort vollends zerborsten. Seitdem schwamm er im bitterkalten Wasser. Er war sich nicht sicher, ob er es noch einmal an Land schaffen würde, wenn er sich mit der Strömung treiben ließ.
Doch ihm blieb keine Wahl. Er ließ sich bewegungslos mitziehen, um Kraft zu sparen. Verzweifelt blickte er zum Ufer, von dem er sich immer weiter entfernte.
Dann entdeckte er am Strand eine zierliche Gestalt. War das ein Kind? Nein, eine Frau! Sie schien etwas zu schreien und deutete wild gestikulierend auf die östliche Seite der kleinen Bucht. Vielleicht war dort drüben die Strömung schwächer?
Er sah, wie sie sich in die Wellen stürzte und in die zuvor angedeutete Richtung schwamm. Also gut, dachte er, wenn sie sich schon meinetwegen in Gefahr bringt, sollte ich wenigstens helfen. Er mobilisierte seine letzten Kräfte und versuchte, seitlich aus dem Strom herauszuschwimme