Das Ende des Krieges ist in Sicht
Wilhelm Theisen stellte den kleinen Volksempfänger auf der schmalen Fensterbank hinter der Sitzbank an. Atmosphärische Störungen kratzten im Lautsprecher. Eine Stimme drang durch, wurde laut, dann leise, verschwand und kam zurück, die vom heldenhaften Kampf der deutschen Truppen um Breslau sprach. Sie sagte, dass Breslau eine Festung sei, in der Wehrmacht und Zivilbevölkerung wie ein Mann stünden und dem Feind den erbitterten Widerstand leisteten. Der Sprecher nannte 34 abgeschossene, russische Panzer. Verluste an eigenen Panzern nannte er nicht. Darauf sagte Wilhelm Theisen, dass die Wehrmacht den Großteil ihrer Panzer wohl in Russland und in Polen bereits verloren habe. Mit den paar übrig gebliebenen Panzern käme eine Panzerschlacht nicht mehr in Frage. Luise Agnes und Eckhard Hieronymus dachten an ihren Sohn Paul Gerhard und an die Bekannten und befreundeten Menschen in Breslau, wie dem alten Gemeindemitglied Matthias Kehrer, der an einem Lungenkrebs litt und zu dem Zeitpunkt verstarb, als Eckhard Hieronymus sich von ihm und seiner Tochter verabschiedete. Er erinnerte sich an den Abschied von der Kriegerwitwe Elisabeth Kreutzer, die so aktiv in der kirchlichen Frauenhilfe war und nach dem Tod ihres Mannes Adolf Kreutzer, der in den letzten Jahren als Küster ausgeholfen und die Glocken geläutet hatte, wenn der alte, an der Parkinsonschen Krankheit und am Bluthochdruck leidende Peter Meyer ausgefallen war. Frau Kreutzer hatte drei kleine Kinder und musste, nachdem ihr Mann an der Weichsel gefallen war und die Kriegerwitwenrente nicht reichte, aus finanziellen Gründen die geräumige Wohnung am Grossen Markt aufgeben und eine kleine Obergeschosswohnung in der verpönten Schindelgasse am hinteren Burgplatz beziehen. Sie bestritt den Lebensunterhalt für die Familie durch eine zusätzliche Halbtagstätigkeit als Putzfrau im Hause eines hochgestellten Parteimenschen, der aber angekündigt hatte, dass er Breslau verlassen werde, um sich und seine Familie vor den Russen in Sicherheit zu bringen.
Eckhard Hieronymus erinnerte sich an den Abschiedsbesuch beim tapferen, jungen Pfarrer Rudolf Kannengießer in der engen Dachgeschosswohnung in der Deutschstraße 25, mit dem von Büchern überladenen Schreibtisch im kleinen Arbeitszimmer, das auch sein Wohnzimmer war. An ihm bewunderte Eckhard Hieronymus die kompromisslose Geradheit im Glauben und die Furchtlosigkeit vor den Konsequenzen, die ihn einige Male in die Verhörkeller der Gestapo gebracht hatte, wo ihm das Erlebnis der Folter nicht erspart blieb. Eckhard Hieronymus hatte die drei russischen Tiefflieger vor Augen, die sie vom Dachfenster aus beobachteten, wie sie mit ratternden Maschinengewehren über die Stadt flogen, als die Menschen hektisch mit ihren Fluchtvorbereitungen zugange waren. Im Ohr hatte er die Kannengießer’schen Sätze, die er wie ein Vermächtnis mit sich trug: „Das ist nun das Ende. Dann werden auch bald die Nazimäuler schweigen. Sie werden irgendwo untertauchen und die Schuld für das klägliche Ende mit der großen Katastrophe auf die Menschen abwälzen, die dafür nicht ganz schuldlos sind, weil sie dem Teufel zur Macht verhalfen und zum Teufelswerk schwiegen und noch mitmachten, anstatt dagegen zu protestieren. Die Kirche habe kläglich versagt, wenn es um die Erfüllung des Auftrags geht, sich für die armen, wehrlosen und gequälten Menschen einzusetzen.
Wir als Kirchenmänner haben uns selbst zu ängstlichen Zuschauern degradiert, anstatt wie ein Paulus aufzustehen und die Verbrechen gegen die Menschheit laut und deutlich anzuprangern.“ Viele gute Menschen gingen Eckhard Hieronymus durch den Kopf, von denen er sich nicht mehr verabschieden konnte. Er fragte sich, wie es diesen Menschen wohl ergehen mochte, wenn der Sprecher im Radio vom heldenhaften Kampf um Breslau sprach, wenn er sagte, dass Breslau eine Festung sei, in der Wehrmacht und Zivilbevölkerung wie ein Mann stünden und dem Feind erbitterten Widerstand leisteten. Da stach die Bemerkung von Pfarrer Kannengießer auf die Frage, ob er Breslau verlassen werde, wie ein Leuchtturm heraus: „Ich werde den Kampf um Breslau von meinem Dachfenster aus verfolgen.“
Klaus Mehring, der sich noch Bratkartoffeln nachgeben ließ, sagte, dass die Kampfmoral bei der Truppe bei Null angekommen sei. Dieser Verlust hinge, soweit er es verstanden habe, nicht nur mit dem fehlenden Nachschub an Nahrung, Decken, Winterkleidung und Kriegsmaterial, sondern mit den Hinrichtungen und den Gräueltaten an der Zivilbevölkerung zusammen. Es war nicht nur ein Landser, der sein Entsetzen über die Vorgänge in den Konzentrationslagern ausgesprochen hatte. Sie alle drückten es aus, dass ein Volk, das solche Verbrechen begeht, der Strafe nicht entgehen könne. Sie sagten auch, dass die Kriegsgegner nicht frei von Verbrechen seien, dass aber