Kapitel 1
David Marchmont, der den Wagen bei heftigem Schneefall die schmale vereiste Straße entlangsteuerte, blickte zu seiner Beifahrerin hinüber.
»Es ist nicht mehr weit, Greta. Sieht so aus, als würden wir’s gerade noch rechtzeitig schaffen. Morgen früh ist diese Straße wahrscheinlich unpassierbar. Kommt dir irgendetwas bekannt vor?«, fragte er vorsichtig.
Greta wandte sich ihm zu. Ihre elfenbeinfarbene Haut hatte trotz ihrer achtundfünfzig Jahre keine Falten, und aus ihrem Gesicht leuchteten riesige blaue Augen, in denen weder Erregung noch Wut zu erkennen war. Das Feuer in ihnen war lange erloschen; sie wirkten so ausdruckslos und unschuldig wie die einer Porzellanpuppe.
»Mir ist klar, dass ich einmal hier gelebt habe, aber ich erinnere mich nicht daran. Tut mir leid, David.«
»Kein Problem«, tröstete er sie und wünschte sich gleichzeitig, den ersten grässlichen Anblick seines Elternhauses nach dem Brand – er hatte immer noch den beißenden Geruch von verkohltem Holz und Rauch in der Nase – aus seinem Gedächtnis löschen zu können. »Marchmont ist fast vollständig renoviert.«
»Ja, David, ich weiß. Das hast du mir letzte Woche, als du zum Abendessen bei mir warst, erzählt. Es gab Lammkoteletts, und wir haben eine Flasche Sancerre getrunken. Du hast gesagt, dass wir im Haupthaus schlafen würden.«
»Genau«, bestätigte David, der verstehen konnte, dass Greta sich an Details der Gegenwart klammerte, weil die Vergangenheit vor ihrem Unfall für sie nicht zugänglich war. Während er den Wagen über die glatte, leicht ansteigende Straße lenkte, auf der die Reifen kaum Halt fanden, überlegte er, ob es eine gute Idee gewesen war, Greta zu Weihnachten herzubringen. Es hatte ihn überrascht, dass sie nach jahrelangen erfolglosen Bemühungen seinerseits, sie aus ihrer Wohnung in Mayfair zu locken, seine Einladung nun angenommen hatte.
Nach drei Jahren umfassender Renovierungsarbeiten hatte er das Gefühl gehabt, dass es der richtige Moment sei, sie mitzunehmen. Und zu seiner Verwunderung schien sie dieses Gefühl zu teilen. Immerhin konnte er ihr ein warmes, gemütliches Haus bieten. Ob Wärme angesichts der Umstände auch auf der emotionalen Ebene möglich war, wusste er nicht …
»Es wird schon dunkel«, bemerkte Greta. »Und dabei ist es erst kurz nach drei.«
»Ja, hoffentlich ist es, wenn wir ankommen, noch hell genug, um Marchmont zu sehen.«
»Wo ich früher gewohnt habe.«
»Ja.«
»Mit Owen, meinem Mann, deinem Onkel.«
»Ja.«
David war klar, dass Greta die Details der Vergangenheit, an die sie sich nicht mehr erinnerte, einfach auswendig gelernt hatte wie für eine Prüfung. Und er war ihr Lehrer gewesen, dem die Ärzte geraten hatten, die traumatischen Ereignisse unerwähnt zu lassen, jedoch Namen, Daten und Orte zu nennen, die ihr möglicherweise den Schlüssel liefern konnten. Wenn sie sich bei seinen Besuchen unterhielten, glaubte er manchmal, ein kurzes Flackern in ihren Augen zu sehen, aber er war sich nicht sicher, ob das etwas mit seinen Schilderungen zu tun hatte oder tatsächlich mit ihrem Gedächtnis. Nach all den Jahren sprachen die Ärzte – die einmal prognostiziert hatten, dass Gretas Erinnerung allmählich wiederkehren würde, weil auf den zahlreichen