: Troy Dust
: Nebelthron
: Books on Demand
: 9783753436418
: 1
: CHF 3.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 228
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nach einer gescheiterten Beziehung reduziert Albert seinen gesamten Besitz auf den Inhalt eines einzelnen Rucksacks. So ausgestattet begibt er sich auf eine Reise, die ihn durch Zufall an einen Ort führt, an dem Menschen leben, die alle einem gemeinsamen Traum folgen. Willkommen in Nebelthron.

Teil 2 – Neuordnung


„Albert?“ fragte Sandra und nahm einen kleinen Schluck des halbtrockenen Rotweins. „Albert?“

Er reagierte nicht. Er saß nur stumm neben ihr auf dem Ast des Trompetenbaums und starrte auf sein abgebrochenes Stück Baguette, das er in der linken Hand hielt, und auf das Stückchen Käse, das in seiner rechten Hand ruhte.

„Hey“, sagte sie und stieß ihm leicht mit dem Finger in die linke Seite. Da bemerkte sie, dass Tränen über seine Wangen liefen.

„Weißt du, was weh tut?“, fragte er, ohne aufzublicken. Er spielte mit dem Käse und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. „Die Erkenntnis, dass ich nicht mehr zu ihrem Leben gehöre und sie nun eigene Wege gehen wird. Wie vorher auch.“ Er sah sie kurz an. „Es ist praktisch so, als hätten wir uns nie kennengelernt.“

„Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ihr habt euch nicht gestritten und das ist sehr viel wert. Und ich glaube, dass sie kein schlechtes Bild von eurer Beziehung hat. Wieso sollte sie auch?“

„Hmmm...“

Sie wusste, dass ihre Worte nicht helfen würden. Herzschmerz konnte nicht weggeredet werden. Und man gewöhnte sich nicht daran, ob das nun gut war oder nicht. Als Kind verbrannte man sich und weinte. Später verbrennt man sich und flucht herum, anstatt zu weinen. Sie hatte sich nach beendeten Beziehungen oft eine ähnliche Reaktion gewünscht. Auch konnte sie seine Ratlosigkeit nachvollziehen. Hätte einer von beiden den anderen betrogen oder sich neu verliebt, so wäre es ein greifbarer Grund gewesen. Er hatte leider in ihren Augen nichts als schwammige Halbwahrheiten. Sie ging nicht von einer Lüge ihm gegenüber aus, aber ein deutlicheres Gespräch hätte ihm zumindest etwas geholfen, alles besser zu verstehen. Er hatte nicht darauf bestanden, trotz seines Rechts dazu, und konnte sich so auf keinerlei Fakten stützen. Aus Erfahrung wusste Sandra, dass das Spiel mit Schuld und Unschuld das reinste Gift war. Aber war das Gift schlechter als die ungeklärte Frage nach dem Warum? Es war ein wirklicher Teufelskreis an Gedanken, in dessen Mittelpunkt ein gebrochenes Herz lag.

„Scheiße“, fluchte er, als ihm der Käse aus der Hand nach unten ins Gras fiel. Ohne sich weiter darum zu kümmern, schaute er sich um.

Der Baum stand auf einer Anhöhe, von der aus man die gesamte Stadt überblicken konnte, die zu allen Seiten hin von grünen Bergen umgeben war. Überall flatterten Schmetterlinge, flogen Insekten und zwitscherten Vögel, während die Stadt ebenfalls in steter Bewegung war: Man konnte fahrende Autos erkennen, sich drehende Kräne auf Baustellen und in der Nähe kleine Fleckchen, die in Häuser gingen, aus Häusern kamen, sich außerhalb trafen oder andere Dinge verfolgten. Der Hügel war bedeckt von einer wilden Wiese, die früher oder später auf Gestrüpp und Hecken traf. Lediglich der Pfad, der nach hier oben führte, war frei von Grün. Der Ort war idyllisch und nur etwa fünf Minuten zu Fuß von Sandras Wohnung entfernt.

„Willst du noch ein Stück?“ fragte sie und war halb dabei, in den Korb zu greifen, der links neben ihr in einer Astgabel klemmte.

Ohne die Augen von der Innenstadt auf der linken Seite abzuwenden, die durch ihre alten Kirchtürme und einen markanten Neubau mit verspiegelter Fassade erkennbar war, antwortete er: „Nein, danke. Ich denke, ich würde es nur fallen lassen.“ Daraufhin lächelte er leicht und blickte kurz zu Sandra, welche das Lächeln erwiderte und einen Schluck Wein nahm. Humor hatte er noch. „Solange im Gesicht noch Platz für ein Lächeln ist, ist nichts zu spät“, hatte einmal jemand zu ihm gesagt. Darin lag sehr viel Wahrheit.

„Mit der Neuordnung hast du schon Recht. Bei mir in der WG gehen ja viele Leute ein und aus. In letzter Zeit hat fast jeder von einer Trennung oder einer Krise zu berichten, egal ob in der eigenen oder einer anderen Beziehung. Genau wie in deinem Umfeld. Es ist, als würde jemand die Gefühlskarten neu mischen, um Bewegung in die eingeschlafene Welt zu bringen.“

Er biss etwas von dem Baguette ab.

Sie sah zu ihm. „Und vielleicht ist es genau diese Neuordnung, wegen der du durch die Gegend reist und jetzt hier sitzt. Was würdest du in diesem Moment tun, wenn es nicht so gekommen wäre, wie es kam?“

Da war es wieder:Was wäre wenn? Doch er ging nicht darauf ein und lenkte vom Thema ab, indem er nach einem Glas Wein fragte.

Er wäre auf jeden Fall glücklicher, dachte sie. Sie stellte ihr Glas vorsichtig in den Korb, nahm das andere nebst der Flasche heraus und füllte es. „Wie lange kennen wir uns schon?“ Sie stellte die Flasche zurück, nahm ihr Glas und reichte ihm das andere. „Das sind doch gut und gerne zehn Jahre.“

„Das kommt hin“, sagte er, glücklich darüber, dass sie den unterschwelligen Hinweis zum Themenwechsel erhalten hatte. „Und wie oft sehen wir uns? Jedes zweite oder dritte Jahr.“

Sie lachten.

„Weißt du was?“ fragte sie und nahm einen Schluck. Sie sah auf ihre Uhr. Es war kurz nach 20:00 Uhr. „Ehe die Mücken über uns herfallen, sollten wir lieber zurück. Bei einer Freundin von mir steigt heute eine Party. Und genau da gehen wir hin.“

Er aß den Rest des Baguettes auf und spülte ihn mit einem Schluck Wein hinunter. Dann nahm er das Glas in beide Hände und klemmte sie leicht zwischen seine Oberschenkel. „Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Stimmung bin. Es gibt da bestimmt haufenweise fröhliche Menschen. Und vor allem Pärchen.“

„Es wird dich aber aus deinem Schneckenhaus locken und auf andere Gedanken bringen.“

Dem konnte er unmöglich widersprechen. Einsamkeit war für ihn nur bedingt gut, da er, wenn er nicht im inneren Gleichgewicht war, dazu neigte, zu viel zu denken. Leider auch die falschen Dinge.

„Möglicherweise wirst du dich sogar amüsieren“, fügte Sandra gespielt entsetzt hinzu, trank ihr Glas aus und stellte es in den Korb zurück.

Damit könnte sie richtig liegen, denn es war schon öfters vorgekommen, dass er trotz anfänglicher Zweifel und Proteste Spaß gehabt hatte. Natürlich hatte es Tage gegeben, an denen gar nichts geholfen hatte, aber daran wollte er nicht denken. Er würde freiwillig aus seinem Häuschen kommen, denn er hätte die Reise gar nicht erst unternehmen müssen, wenn es ihm lieber gewesen wäre, mit seinen Grübeleien allein zu sein; davon hatte es in den letzten Tagen und Wochen genug gegeben. Es reichte langsam. Jedenfalls für heute.

Nachdem sein Glas leer und wieder sicher im Korb war, kletterten sie von dem Ast herunter und traten den Weg zurück zu Sandras Wohnung an. Auf dem Trampelpfad, der nach einer Weile von Bäumen gesäumt wurde und an die Miniaturausgabe einer Allee erinnerte, blieben sie stehen, da vor ihnen ein Eichhörnchen auftauchte. Es hielt auf einer der aus dem Erdreich ragenden Wurzeln inne und schaute zu ihnen. Es richtete sich auf und verharrte.

Sandra, die Eichhörnchen zu ihren Lieblingstieren zählte, lächelte und fragte sich dabei, was es wohl dachte, während es schaute und registrierte, von den beiden Riesen beäugt zu werden.

Albert konnte sich noch daran erinnern, wie er einmal auf einem Friedhof sehr zahme Exemplare beobachtet hatte. Die kleinen Racker waren ohne Scheu bis auf einen halben Meter an ihn herangekommen. Er fragte sich nun, ob sie sich diese Eigenart angewöhnt oder ob sie gespürt hatten, dass er ihnen nichts tun würde, da er ein friedvoller Geselle war.

Irgendetwas knackte in der Nähe. Das Eichhörnchen überquerte blitzschnell den Rest des Weges und verschwand links auf einem der Bäume. Kaum war dies geschehen, liefen beide weiter, als hätte eine Ampel auf Grün gewechselt. Als sie den Baum passierten, suchten sie vergeblich nach dem Tier. Es war verschwunden.

Die Party fand in einem großen Altbau statt, welcher ausschließlich von Studenten bewohnt wurde. Die Türen in und zu allen Wohngemeinschaften des Hauses standen offen, das Treppenhaus war voller Menschen und Besucher gingen ein und aus. Selbst der Keller schien belagert zu sein. Überall ertönte verschiedenste Musik – ob nun aus einer Anlage oder von einer Akustikgitarre – und hörte man Stimmen und Geräusche. In der Luft lagen die Gerüche von Rauch, Parfum, Alkohol und Essen, das in der einen oder anderen Küche mehr oder minder spontan zubereitet wurde, ob nun frisch oder aus dem Tiefkühlfach heraus; es war ein anregendes Chaos.

Albert mochte Partys nicht sonderlich, auf denen er niemanden oder kaum eine Person kannte, doch schien er diesmal nicht der einzige zu sein, dem es so ging. Er sah nicht wenige, die offenbar planlos ohne Gegenüber an ihrem Platz standen, lehnten, hockten oder saßen, und sich an ihre Flasche, ihr Glas, ihre Zigarette oder ihren Teller klammerten. Er nahm nicht an, dass alle von ihnen auf jemanden warteten.

Es dauerte nicht sehr lange, bis Sandra die...