1.
Nicht vergessen: Heute, 14 Uhr. Es kommt sonst keiner. Danke! LG Ludwig.
Mist! Malou Löwenberg klickt die Nachricht weg. Sie hat den Termin völlig verschwitzt und verflucht sich selbst dafür, dass sie Ludwig letzte Woche zugesagt hat. Ludwig, der alte Friedhofsgärtner, der beste Freund ihres Vaters – damals, als Vater noch ein anderer war.
»Einmal Palak Paneer für die Frau Malou!«, brüllt Shahid hinter der Theke in einer Lautstärke, als müsse er ein Wett-Schreien gewinnen. Trotzdem geht seine Stimme beinahe im dudelnden Bollywood-Song unter, der aus den Lautsprechern dröhnt. Im antik anmutenden TV-Kasten über Shahids Kopf tanzen schöne Frauen in bunten Saris in Endlosschleife.
Malou blickt auf die Uhr; fast halb zwei, das ist noch zu schaffen, doch fürs Essen bleibt eigentlich keine Zeit. Dabei hat sie bereits das Frühstück wegen eines vermeintlichen Einsatzes sausen lassen, der sich vor Ort als Fehlalarm entpuppte. Ihr Magen knurrt unbehaglich. Also greift Malou trotzdem zum Teller, den Shahid ihr über die Theke reicht, stellt sich damit an einen Stehtisch und schaufelt eiligst übergroße Bissen Spinat und Frischkäse in sich hinein. Fünf Gabeln müssen reichen, danach muss sie los, wenn sie rechtzeitig auf dem Friedhof sein will. Handy einstecken, Tasche umhängen, noch ein letzter Bissen … die Gabel entgleitet ihr um ein Haar, sie kann sie gerade noch fassen, doch die Ladung Spinat landet nicht in ihrem Mund, sondern auf ihrem Pulli, exakt auf Brusthöhe.
»Verflucht!«, schimpft sie, ohne dass jemand sie hört; die Musik ist viel zu laut.
Mit der Papierserviette versucht Malou den Fleck hastig wegzuwischen, was nur bedingt gelingt: Er wird zwar blasser, dafür umso größer. Grün auf Gelb, großartig, das perfekte Outfit, um eine Grabrede zu halten, denkt sie sarkastisch. Ein Glück, dass niemand außer Ludwig sie sehen wird.
Es kommt sonst keiner.
Malou überlegt, ob sie mit einem Uber oder mit einem Taxi zum Bremgartenfriedhof fahren soll, doch sie entscheidet sich für den Roller; damit bewegt sie sich in der Stadt am schnellsten. Sie winkt Shahid kurz zu und erntet einen tadelnden Blick, weil sie ihr Essen praktisch unberührt stehen lässt. Sie zuckt mit den Schultern. Er kennt das schon: Seine Imbissbude in der Berner Altstadt liegt nur wenige Minuten von der Polizeizentrale entfernt und ist seit Jahren Malous erste Anlaufstelle, wenn sie Hunger hat – und sie kann nicht mehr zählen, wie oft sie wegen eines Einsatzes vorzeitig aufbrechen musste.
Als Malou hinaus in die Gasse tritt, rumpelt über ihr ein Donner. Sie blickt hoch und sieht, wie sich eine regenschwere Wolke vor die Sonne schiebt. Das hat ihr gerade noch gefehlt! Doch wenn sie schnell genug fährt, wird sie dem Regen entkommen. Das hofft Malou zumindest.
Bruna, so nennt sie ihre schokoladenbraune Vespa, steht auf dem Fahrradparkplatz gleich gegenüber. Malou hat deswegen kein schlechtes Gewissen – es gibt schlicht zu wenig Motorrad-Abstellplätze in dieser Stadt. Trotzdem ist sie froh, dass man ihr den Beruf nicht an der Nase ansehen kann, wenn sie Bruna jeweils nicht ganz legal hier parkt. Mit ihrem roten Kurzhaarschopf und dem Zungenpiercing, das frech aufblitzt, wenn sie spricht, würde Malou eher als Barkeeperin in einem linksautonomen Kulturzentrum durchgehen. Ganz zu schweigen von dem kleinen roten Stern, den sie sich in einer durchzechten Nacht im Suff hat zwischen die Schulterblätter stechen lassen. Eine Jugendsünde. Zum Glück bekommt kaum jemand das Tattoo je zu Gesicht.
Malou öffnet den Topcase-Koffer, entnimmt ihm den Helm. Schon malen fette Regentropfen dunkle Punkte auf den Asphalt. Doch sie hat keine Wahl: Nur mit dem Roller hat sie eine Chance, rechtzeitig auf dem Friedhof zu sein. Sie setzt den Helm auf und tritt auf den Kickstarter. Zum Glück springt der Motor an, d