: Cay Rademacher
: Der Trümmermörder Kriminalroman
: DuMont Buchverlag
: 9783832186401
: Inspektor-Stave-Reihe
: 1
: CHF 3.30
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kommissar Staves erster Fall Hamburg 1947: Die Stadt liegt in Trümmern, und es ist einer der kältesten Winter des Jahrhunderts. Die Menschen versuchen irgendwie zu überleben. Da wird mitten in der Trümmerlandschaft eine Leiche entdeckt: eine junge Frau, nackt, kein Hinweis auf den Mörder. Oberinspektor Stave hat kaum Hoffnung, den Fall aufzuklären, auch wenn ihm Lothar Maschke von der Sitte und Lieutenant MacDonald von der britischen Verwaltung zur Seite gestellt werden. Bald werden weitere Tote entdeckt, und Stave ist für jede Hilfe dankbar, die er auf der Suche nach einem grausamen Mörder bekommt. Cay Rademacher lässt in einem hochspannenden authentischen Kriminalfall das Hamburg des Hungerwinters 1946/47 lebendig werden.

CAY RADEMACHER, geboren 1965, schreibt in mehrere Sprachen übersetzte Kriminalromane, etwa die>Trümmermörder<-Trilogie aus dem Hamburg der Nachkriegszeit oder die Provence-Serie um Capitaine Roger Blanc. Außerdem erschienen>Ein letzter Sommer in Méjean< (2019),>Stille Nacht in der Provence< (2020) und>Die Passage nach Maskat< (2022) sowie das historische Sachbuch>Drei Tage im September< (2023). Cay Rademacher lebt mit seiner Familie bei Salon-de-Provence.

Kaltes Erwachen


Montag, 20. Januar 1947


Im Halbschlaf tastet Oberinspektor Frank Stave nach dem Körper seiner Frau, bis er sich daran erinnert, dass sie vor dreieinhalb Jahren verbrannt ist. Er ballt die Hand zur Faust, dann schlägt er die Bettdecke zurück. Eisige Luft vertreibt die letzten Schleier des Alptraums.

Graues Dämmerlicht dringt durch die zerschlissenen Damastvorhänge, die Stave aus den Trümmern des Nachbarhauses geborgen hat. Seit fünf Wochen befestigt er sie jeden Abend mit einigen auf dem Schwarzmarkt erstandenen Heftzwecken an den Fensterrahmen. Die Scheiben sind dünn wie Zeitungspapier und innen mit einem Eispanzerüberkrustet. Stave befürchtet, das Glas könnte irgendwann unter dem Gewicht des Eises bersten. Absurde Sorgen: Die Fenster haben unter den Druckwellen unzähliger explodierender Bomben geklirrt, doch zerplatzt sind sie nie.

Die Bettdecke ist stellenweise an der Wand festgefroren. Im trüben Schein des frühen Morgens sehen die Zimmerwände aus wie mit Hornhautüberzogen, so dick ist die Reifschicht. Darunter einzelne Streifen einer Tapete, deren Muster 1930 modern gewesen ist, fleckiger Putz, in einigen Ecken schließlich die nackte Mauer, schwarzrote Ziegel und hellgrauer Mörtel.

Stave geht langsam bis zur winzigen Küche, der eisige Fliesenboden schneidet in die Sohlen, trotz zwei Paar alter Socken an den Füßen. Mit steifen Fingern tastet er an der Brennhexe herum, bis in dem winzigen fassförmigen Ofen ein Feuer lodert. Es stinkt nach verbrannter Möbelpolitur, denn das Holz, mit dem Stave die Brennhexe füttert, war einst eine dunkle Schlafzimmerkommode aus dem Nachbarhaus, das im Sommer 1943 von einer Bombe getroffen wurde.

Vonder Bombe, denkt Stave. Der Bombe, die ihm seine Frau genommen hat.

Während er darauf wartet, dass ein Eisblock in dem alten Wehrmachtskessel auf der Brennhexe schmilzt und ein wenig Wärme in die Wohnung bringt, streift er sich den alten Wollpullover ab, dann den Trainingsanzug der Polizei, die zwei Unterhemden, die Socken, in denen er geschlafen hat. Sorgfältig drapiert er sie auf dem wackeligen Stuhl neben seinem Bett. Da ihm nur 1,95 Kilowatt Strom pro Monat zugeteilt sind – kostbare Energie, die für seine Herdplatte und das Abendessen aufgespart wird –, macht er kein Licht. Also legt er seine Kleider stets nach dem gleichen Muster zurecht, damit er sie in der Düsternis richtig anzieht.

Wasser, noch immer so kalt wie aus einem Gletscher, hastig ins Gesicht und auf den Körper gespritzt, wo die Tropfen brennen. Unwillkürlich zittert Stave. Dann streift er sich Hemd, Anzug, Mantel, Schuheüber. Die Rasur im Halbdunkel, vorsichtig, langsam, denn Schaum gibt es nicht, und die Klinge ist schon schartig. Neue sollen, wennüberhaupt, erst in einigen Wochen auf Bezugsschein ausgegeben werden. Den Rest des Wassers lässt er derweil auf der Brennhexe weiter aufwärmen.

Gerne hätte Stave Bohnenkaffee getrunken, wie vor dem Krieg. Doch er hat nur Ersatzkaffee, eine fade graue Brühe, nachdem er das Pulver mit dem lauwarmen Wasser aufgegossen hat. Ein paar schon vor Tagen geröstete, zerriebene Eicheln mischt er darunter, damit sie wenigstens bitter schmeckt. Dazu zwei Scheiben bröseliges Graubrot. Frühstück.

Den letzten echten Kaffee hat Stave gestern am Hauptbahnhof gegen ein paar wertlose Informationen eingetauscht. Er ist Polizei-Oberinspektor – ein Dienstrang, den die britischen Besatzungsbeamten eingeführt haben und an dessen Klang sich Stave stets stört, der mit Titeln wie»Kriminalinspektor« oder»Hauptwachtmeister« groß geworden ist.

Am vergangenen Samstag hat er zwei Mörder verhaftet. Flüchtlinge aus Ostpreußen, die in Schwarzmarktgeschäfte eingestiegen waren und eine Frau, die ihnen etwas schuldete, erdrosselt und in ein Fleet geworfen hatten, beschwert mit einem Brocken Beton aus einer Ruine. Mit viel Mühe hatten sie zuvor das halbmeterdicke Eis auf dem Wasser aufgehackt, um ihr Opfer darunter zu versenken. Ihr Pech, dass sie nicht um die Gezeiten wussten – und darum, dass bei Ebbe die Tote für jeden im Schlamm des Grundes sichtbar wurde, unter dem Eis wie unter einem Vergrößerungsglas.

Stave hatte das Opfer rasch identifiziert, hatte herausgefunden, mit wem es zuletzt gesehen worden war, und die beiden Täter keine vierundzwanzig Stunden nach dem Mord verhaftet.

Dann war er, wie an jedem Wochenende, das nicht ganz mit Ermittlungen ausgefüllt war, zum Hauptbahnhof gegangen und hatte sich unter den endlosen Menschenstrom auf den Bahnsteigen gemischt, hatte sich unter all den Hamburgern auf Hamsterfahrten ins Umland und unter den heimkehrenden Soldaten umgehört. Hatte nach einem Karl Stave gefragt, flüsternd, zögerlich.

Karl, der sich im April 1945 als siebzehnjähriger Gymnasiast freiwillig zu einer Einheit an der Ostfront gemeldet hatte, die zu jenem Zeitpunkt schon in den Vororten von Berlin verlief. Karl, der seine Mutter verloren und seinen Vater als»lau« und»undeutsch« verachtet hatte. Karl, der seit dem Kampf um die Reichshauptstadt verschollen war, ein Phantom im Niemandsreich zwischen Tod und Leben, vielleicht gefallen, vielleicht kriegsgefangen von der Roten Armee, vielleicht irgendwo auf der Flucht, untergetaucht, mit falschem Namen. Aber hätte er sich