: Christine Brand
: Todesstrich
: Atlantis Literatur
: 9783715275284
: 1
: CHF 15.20
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Drei Menschen, drei Welten: Lisa Kunz ist die neue Leiterin des Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern, jener Abteilung, die sich mit den schlimmsten aller Verbrechen befasst: mit Totschlag und Vergewaltigung, mit vorsätzlicher Tötung und kaltblütigem Mord. Schon als Kind hat sie lieber Detektivin als mit Puppen gespielt und wähnt sich am Ziel ihrer Träume. Renate Berger hat geglaubt, dass sie es vielleicht doch noch schaffen kann, dass mit der Geburt ihrer Tochter ein neues Leben beginnt, ein Leben ohne Drogen. Aber die Sucht ist stärker. Bruno Bärtschi ist ein Mann vom Land, klein gewachsen, grob kariertes Hemd, schwere Schuhe, Hände wie Pranken. Er ist das mittlere von neun Kindern und der Einzige, der bei seiner Mutter auf dem elterlichen Hof geblieben ist und in dem Zimmer schläft, in dem er sein ganzes Leben geschlafen hat. Drei Geschichten, die unaufhaltsam aufeinander zusteuern und unwiederbringlich miteinander verwoben werden, als eine Prostituierte vom Berner Drogenstrich spurlos verschwindet.

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat neun Kriminalromane, zwei Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer.

2


»Das Büromaterial befindet sich draußen im Gang im grauen Korpus. Dort finden Sie alles, was Sie brauchen: Kugelschreiber, Filzstifte, Kuverts in allen Größen, Briefpapier et cetera et cetera. Locher, Schnellhefter oder Hängeregister können Sie direkt bei mir bestellen.«

Die kleine rundliche Frau aus dem Chefsekretariat redete ohne Unterlass. Ihre Stimme klang unangenehm hoch, schrill fast. Ihre Haare waren rot gefärbt und dünn, genau wie ihre Lippen. Die Augenbrauen hatte sie sich ausgezupft und durch einen dick aufgemalten Strich ersetzt. Ihr Alter? Schwierig zu schätzen. Aber es war gut vorstellbar, dass sie dieselbe Einführung schon einige Male in einem Ton von solch militärischer Schärfe zum Besten gegeben hatte.

»Den Eingangs-Badge haben Sie bereits erhalten, die Visitenkarten werden nächste Woche da sein. Die Blumen auf dem Pult sind vom Regierungsrat; Sie sollten sich bei ihm bedanken.«

Lisa Kunz nickte artig und ließ den Wortschwall widerstandslos über sich ergehen. Doch als sich die kleine Frau, die Mathys oder Marti hieß – Lisa Kunz hatte leider ein miserables Namensgedächtnis –, kurz abwandte, verdrehte sie hinter ihrem Rücken die Augen. Schlimmer als Mutter, dachte sie.

»Wenn Sie irgendetwas brauchen oder ein Problem haben, rufen Sie mich unverzüglich an. Ich habe Ihnen meine direkte Durchwahl auf einem Post-it auf das Pult geklebt.«

»Vielen Dank für Ihre Bemühungen, Frau …«

»Mathys, mein Name ist Mathys«, sagte die Sekretärin beleidigt. Sie schob sich ihre goldgerahmte Brille auf der Nase zurecht, marschierte Richtung Tür und blickte noch einmal zurück. »Und vergessen Sie nie, die Fenster zu schließen, wenn Sie nach Hause gehen. Abends frischt ein Wind auf, der Ihnen sonst alles durcheinanderbringt.«

Wiederum ein artiges Nicken. Sie meinte es ja nur gut. Lisa Kunz erntete einen letzten strengen Blick der Sekretärin, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Dann schloss Frau Mathys energisch die Tür hinter sich. Lisa Kunz atmete laut auf. Endlich Ruhe. Endlich hatte sie ein paar Minuten für sich.

Sie stand in einem riesigen Büro mit überhoher Decke und blickte aus dem Fenster. Unter ihr schlang sich das grüne Band der Aare um die Stadt. Der Fluss strahlte eine Ruhe aus, die trügerisch war. Sie wandte sich ab, blickte zum Schreibtisch, zum neuen schwarzen Bürostuhl; aus Leder, auf Rädern, mit einer hohen Lehne. Ein richtiger Chefsessel. Ein Lächeln streifte ihr Gesicht, sie konnte es noch immer kaum glauben. Unauffällig ballte sie die Hand zur Faust.

»Jawohl! Ich habe es geschafft!«, sagte sie laut zu sich selbst.

Sie war einen langen Weg gegangen, der kurvig, steinig, nicht immer einfach gewesen war. Doch sie hatte sich nicht bremsen lassen durch die vielen Hindernisse, die ihr, teils mit Absicht, immer wieder vor die Füße geworfen worden waren. Jetzt spürte sie eine tiefe Befriedigung. »Ich bin der Chef. Weil ich gut bin. Weil ich es allen bewiesen habe!« Am liebsten hätte sie es laut in die Welt hinausgeschrien, doch sie begnügte sich mit dem leisen Selbstgespräch. Es hörte sich auch so gut an.

Lisa Kunz war eine groß gewachsene, athletisch gebaute Frau mit dunklen Augen und einem frech und kurz geschnittenen blonden Haarschopf. Sie hatte eine kleine Nase, die nach ihrem Geschmack eher zu klein war, und hohe Wangenknochen, die sie härter erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Aber sie hatte ein hübsches, symmetrisches Gesicht, mit einem reinen, hellen Teint. »Ein Gesicht für die Werbung«, hatte ihr ein Freund einmal gesagt, der in der Grafikbranche arbeitete. Am besten hätte sie wohl in einen Werbespot für modische Outdoorkleidung gepasst. Doch das Modeln überließ sie lieber anderen. Überhaupt war sie dafür viel zu alt. Lisa Kunz war gerade einundvierzig geworden, und die Vergänglichkeit hatte soe