Kapitel 1
Argegno, Norditalien
Oktober 1978
Rosalba nahm eine Scheibe Brot, schöpfte eine Portioncarpaccio di bresaola und beträufelte das Trockenfleisch mit Olivenöl und Balsamico.
Der Briefumschlag, der am Abend für sie in der Post gewesen war, lag neben ihr. Die Rückseite des Kuverts verriet, dass es sich bei dem Absender des Schreibens um Remo Albrecht handelte. Der junge Architekt, den Rosalba während ihres Praktikums in der Schweiz kennengelernt hatte, sandte ihr bereits den zweiten Brief seit ihrer Abreise vor wenigen Wochen. Natürlich hatte sie sein erstes Anschreiben umgehend beantwortet.
»Wie gefällt dir das Buch über Coco Chanel, das dir Madrina Marisa zum Geburtstag geschenkt hat?« Papa tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab und schaute Rosalba mit hochgezogenen Augenbrauen und einem interessierten Lächeln an.
Aus ihren Gedanken hochgeschreckt, starrte sie ihn einige Sekunden lang schweigend an, ehe sie sich an seine Frage zu ihrem neunzehnten Geburtstag im September erinnerte. »Sehr gut, es ist unglaublich inspirierend.« Sofort senkte sie den Blick und widmete sich erneut ihrem Essen. Sie war viel zu aufgewühlt, um sich mit ihren Eltern zu unterhalten. Immer wieder zuckten ihre Augen in Richtung der Nachricht. Gewaltsam riss sie sich los und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Während ihr Vater von irgendwelchen ärgerlichen Auseinandersetzungen mit den Behörden und gegnerischen Advokaten erzählte, schaute sie zu den nach Norden gerichteten Fenstern hinaus, durch die nun das letzte matte Tageslicht hereinfiel. Vom Tisch aus war der etwas tiefer liegende Garten, das Meisterstück ihrer Mutter Aurora, leider nicht zu sehen. Man erkannte bloß den im Abendlicht glitzernden Teppich des Sees und die Bergketten am Horizont. Rosalbas Blick glitt zurück in den Essraum.
Wie eine Kuppel spannte sich die schon etwas in die Jahre gekommene bemalte Zimmerdecke über ihren Köpfen. Die einem wolkigen Himmel bei Sonnenuntergang nachempfundene Malerei ließ zahllose Pastelltöne von Blau bis Rosa harmonisch miteinander verschmelzen. Da Papa es nicht mochte, das Abendessen im Dämmerlicht einzunehmen, war der Kronleuchter, der über dem Tisch hing, bereits angezündet worden und tauchte den Raum in goldenes Licht. Massive lackierte Holzmöbel, deren Farbtöne an flüssigen Honig und geschmolzene Schokolade erinnerten, standen im Raum verteilt. Der Esstisch, der aufgrund seiner Ausmaße eher für rauschende Bankette gedacht war, bestand ebenfalls aus dunklem Holz. Die geschwungenen Beine verliehen ihm etwas Verspieltes. Der viel zu bunte orientalische Teppich, der während Rosalbas Kindertagen den Boden bedeckt hatte, war vor einigen Jahren in ein anderes Zimmer verlegt und durch ein altrosa Exemplar ersetzt worden, das besser zur Deckenmalerei passte. Ihre Mutter hatte sich nach jahrelangen Diskussionen endlich durchgesetzt. Das wertvolle Flechtwerk schmückte nun ein Gästezimmer in einer der oberen Etagen.
Obwohl Rosalba sich redlich bemühte,alles detailliert anzusehen, bloß nicht das ..., endete ihr Blickspaziergang ausgerechnet dort. Schon wieder.
Bei dem ungeöffneten Briefumschlag.
Was er wohl geschrieben hatte?
»Hattet ihr einen guten Arbeitstag?« Papa blickte sie und Mamma der Reihe nach an und hob fragend eine Augenbraue.
»Ja«, beantwortete ihre Mutter die Frage. »Wir h