Kapitel 1 –
In die Pilze
Im Morgendunst sieht alles so verwaschen aus. Vielleicht ist aber auch nur Völxens müder Blick noch ein wenig getrübt, denn es ist verdammt früh, besonders wenn man bedenkt, dass heute Sonntag ist. Schweren Schrittes stapft Hauptkommissar Bodo Völxen durch den Wald bergan, seinem Nachbarn Jens Köpcke hinterher. Der Nordhang liegt noch komplett im Schatten, die Temperaturen sind empfindlich kühl und das Gras feucht vom Tau. Man merkt, dass es bis zum Herbst nicht mehr lange hin ist. Im Zeitlupentempo erklimmt die aufgehende Sonne den Kamm des Deisters, jenes dicht bewaldeten und angeblich äußert pilzreichen Mittelgebirgsrückens südlich von Hannover. Immer wieder einmal muss Völxen verstohlen gähnen. Selbst schuld! Was musste er auch gestern so herumjammern? Wie fast jeden Abend standen er und sein Nachbar in der Dämmerung am Zaun der Schafweide, zischten ein lauwarmes Herrenhäuser, und Völxen beschwerte sich bitterlich: Er sei nun bestimmt schon ein Dutzend Mal im Deister Pilze suchen gegangen, aber stets vergeblich, es sei wie verhext.
Dabei kann es doch nicht so schwierig sein. Alle Welt brüstet sich dieser Tage mit Fotos einer reichen Pilzausbeute in den sozialen Medien. Nicht, dass der Hauptkommissar persönlich in diesen Niederungen des Internets verkehren würde. Seine Frau Sabine zeigt ihm ab und an die einschlägigen Posts der Trophäen von Bekannten, und Völxen vernimmt dabei sehr wohl die unterschwellige Botschaft und fühlt sich wie ein Versager.
Irgendwann in dieser Leidenszeit gelangte Völxen zu der Einsicht, dass es überhaupt nichts bringt, stundenlang planlos durch die Wälder zu streifen. Nachdenklich betrachtete er daraufhin seinen Terriermischling Oscar, um schließlich die existenzielle Frage aufzuwerfen: »Wozu füttert man dich eigentlich das ganze Jahr durch?«
Nach Rücksprache mit einem der Trainer der Hundestaffel der Polizeidirektion Hannover besorgte Völxen ein paar Übungsexemplare in der Markthalle der Landeshauptstadt. Zu Hause ließ er Oscar an den Steinpilzen schnüffeln und versteckte diese anschließend im weitläufigen Garten seines ländlichen Anwesens. Nach kurzer Zeit und unter Einsatz etlicher Leberwurstleckerlis kapierte der Hund, was man von ihm verlangte. Und tatsächlich: Oscar erschnüffelt und verbellt seither jeden Steinpilz. Im heimischen Garten. Dort, und nur dort, klappt die Pilzsuche hervorragend. Im Wald dagegen sind die Verlockungen durch andere Gerüche einfach zu groß und zu viel für den wankelmütigen Oscar.
»Du musst früher aufstehen, Kommissar, sonst sind die anderen schneller!«, hat ihm der Hühnerbaron gestern Abend, am Ende von Völxens Jammertirade, geraten.
»Ichbin früh aufgestanden.«
»Was so ein Städter halt unter früh versteht.«
Das ist auch so eine Sache. Seit über dreißig Jahren lebt die Familie Völxen nun schon in dem umgebauten alten Bauernhof, dessen Obstwiese und Schafweide an Köpckes Grundstück grenzt. Dennoch gelten er und seine Frau – er noch mehr als Sabine – für den Hühnerbaron und den Rest der Dorfbewohner nach wie vor als Städter, und daran wird sich auch nichts mehr ändern. Also hat Völxen denStädter, wieder einmal, unwidersprochen hinuntergeschluckt, denn danach meinte Jens Köpcke gnädig: »Wenn du willst, zeig ich dir morgen mal ein paar Pilzstellen.«
Was wiederum einen Freundschaftsbeweis erster Güte darstellt.
»Morgen früh um fünf Uhr auf meinem Hof, ich fahre«, ordnete Köpcke an.
Umfünf? Und das, obwohl Ende August die Sonne erst nach sechs Uhr aufgeht und nicht einmal Köpckes Hühner zu dieser Unzeit aufstehen. Völxen musste schwer schlucken, doch er hat den Mund gehalten und gedacht:Der frühe Vogel fängt den Wurm, beziehungsweise den Pilz.
Jetzt freut er sich schon auf Sabines Gesicht, wenn er, der Held der Morgenstunde, zum Frühstück mit einem prall gefüllten Korb prächtiger Steinpilze erscheinen wird. Die kann sie dann seinetwegen ruhig fotografieren und posten, wo immer sie möchte.
Seit einer gefühlten Ewigkeit wandern sie nun schon durchs Dickicht, denn natürlich, so Köpcke, wachsen Pilze nicht rechts und links des Weges, und falls doch, dann hat sie längst einer vor ihnen geerntet.
Ein frischer Wind fährt durch die Baumwipfel und zaust Völxens graublondes Resthaar, sein Magen knurrt, und außerdem beschleicht ihn allmählich der Verdacht, dass die Pilzstellen, die sein Nachbar ihm zeigen will, nicht gerade die besten sind, sondern eher die 2-B-Lagen. Gerade sind sie nämlich an einer solchen angekommen, aber die Pilze dort sind so mickrig und von Schnecken zerfressen,