Kapitel3
O Gott!«, presste sie fast lautlos hervor, die unsichtbaren Hände um ihren Hals ließen ihr kaum noch Luft zum Atmen. Niemand nahm von ihr Notiz. Nicht die Erzieherinnen, nicht Paul, auch nicht der bewaffnete Geiselnehmer.
»Wer von euch hat diese Lügen erzählt?«, schrie er irgendwo in den Raum hinein.
Hannah hatte das Gefühl, als wollte sich ein Gedankenschwall förmlich aus ihrem Kopf herauspressen.
Ich kenne ihn. Habe ihn gerade erst gesehen.
Wolfs – »ihr könnt mich Wolle nennen« – Gesicht war zur Fratze verzerrt und hatte kaum noch etwas mit dem lächelnden Bewerbungsfoto gemein, das Hannah eben erst am Schwarzen Brett studiert hatte.
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Die Online-News-Magazine würden schon in wenigen Stunden darüber schreiben, wofür die Zeitungen noch bis zum nächsten Tag brauchten: wie der »Kita-Killer« mit einer Waffe in den Kindergarten eingedrungen war, um sich dort wie ein Amokläufer zu benehmen.
Wer hat Angst vorm bösen Wolle?, würde sich ein Redakteur später nicht entblöden, in einer Titelüberschrift zu fragen.
Wolf »Wolle« Schlagmann war von einem der Kinder – man würde nie erfahren, von welchem – beschuldigt worden, beim Anschubsen auf der Schaukel betatscht worden zu sein. Das war bereits vor Tagen geschehen. Die Kindergartenleitung hatte den Praktikanten bis zur Klärung der Vorfälle suspendiert und unglücklicherweise nicht nur vergessen, den Steckbrief vom Schwarzen Brett zu nehmen, sondern ihm auch noch eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Die war von Wolles hochschwangerer Frau abgehört worden. Da es in der Ehe ohnehin gerade kriselte, gab es einen Grund mehr, den werdenden Vater aus der gemeinsamen Wohnung zu schmeißen. Gleichzeitig verbreitete sie das Gerücht unter ihren Freunden, und es machte die Runde auf der Fachschule für Sozialpädagogik, an der Wolle seine Ausbildung absolvierte. Verlassen und verleumdet, wähnte er sich privat wie beruflich am Ende. Ob er sich einem Kind wirklich unsittlich genähert hatte, sollte sich niemals aufklären. Dass jemand mit einem derartigen Hang zu exzessiven Aggressionsschüben nie mehr beruflich in die Nähe von Kindern kommen sollte, stand jedoch völlig außer Frage. Er hatte ganz offensichtlich eine krankhafte gewalttätige Ader, und seine Wut machte ihn zudem blind und wahllos. Samira und Paul waren keine bewusst ausgesuchten Geiseln. Sie hatten lediglich das Pech gehabt, ihm als Erstes in die Arme zu laufen.
Paul.
Er starrte in Hannahs Richtung, aber durch sie hindurch. Wie betäubt. Sie winkte ihm, schüttelte den Kopf. Nicht zu stark, denn die Aufmerksamkeit des Geiselnehmers wollte sie um keinen Preis der Welt wecken.
Gut. Er sieht mich.
Hannah schaltete in einen nonverbalen Kommunikationsmodus. Ihre beste Freundin Telda hatte einmal gesagt, es käme der Telepathie gleich, wie sie mit Menschen, die ihr nahestanden, kommunizieren konnte, ohne dabei ihre Stimmbänder zu benutzen. Wobei es dafür auch einen sensiblen Gegenpart brauchte wie Paul, mit dem sie immer und immer wieder geübt hatte, seitdem er begonnen hatte, sich für den Beruf seiner Mutter zu interessieren.
»Ich beschütze dich!«, signalisierte sie ihm, indem sie zweimal hintereinander die Lider fest aufeinanderpresste und erst nach einer Sekunde wieder öffnete.
»Mami, was machst du eigentlich beruflich?«, hatte Paul vor etwa einem Jahr zum ersten Mal gefragt, und sie hatte geantwortet:»Ich lese in Gesichtern.«
Er hatte seine sommersprossige Nase vorgestreckt und schelmisch grinsend gefragt:»Und? Was liest du in meinem?«
»Freude, Neugierde … und dass dein Zimmer wieder ein Schlachtfeld ist!«
Da war Paul gerade vier Jahre alt geworden, und schon da hatte er es genauer wissen wollen. Und sie hatte es ihm genauer erklärt. Dass sie als Mimikresonanz-Expertin auf die geringsten Veränderungen in der Gesichtsmuskulatur achtete. Auf die Bewegungen von Lippen und Kinn, Augen und Nase, Brauen und Stirn. Mikroexpressionen, die man nicht steuern konnte, selbst wenn man es ausgiebig trainierte – und die schneller als ein Wimpernschlag wieder vorbei waren.
»So erkennst du, ob jemand lügt?«
»Oder ob er Angst hat, sich ekelt, Freude oder Trauer empfindet.«
Oder Hilflosigkeit, gekoppelt mit der Bereitschaft, anzugreifen. Wie Wolle gerade. Dem sie ansah, dass er glaubte, nichts mehr zu verlieren zu haben. Das waren die Gefährlichsten.
»Mimirosentanz?«, hatte Paulchen wiederholt.»Wozu braucht man den Quatsch?«
Er hatte gekichert, als sie ihm den Finger durchs T-Shirt in den Bauchnabel steckte und ihn als »Frechzwerg« betitelte. Sie tat das viel zu oft, einfach weil sie sein Prusten so niedlich fand, das sich noch immer wie ein Babyglucksen anhörte, hell und kieksend.
»Ich a