: Lion Christ
: Sauhund Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278493
: 1
: CHF 16.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Debütroman von Lion Christ: Über einen jungen Mann, 'der so lange fortläuft, bis er bei sich selbst ankommt - ein berührendes radikal ehrliches Buch.' Jenny Erpenbeck
München, 1983. Flori kommt vom Land und sucht das pralle Leben, Glanz und Gloria, einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Er ist ein unverbesserlicher Glückssucher und Taugenichts, ein Sauhund und Optimist. Im München von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury, von erstickendem Biedersinn und wildem Hedonismus, ist jeder eigene Schritt eine kleine Befreiung. Flori rennt vor seinen Eltern davon, vor seiner ersten großen Liebe, vor jedem mit Erwartungen an ihn. Er wirft sich in die Clubs und Klappen, die heimlich zweckentfremdeten Ehebetten und Berührungen in aller Öffentlichkeit. Mit 'Sauhund' setzt Lion Christ Flori und allen vergessenen Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal.

Lion Christ, in Bad Tölz geboren, studierte Film und Literarisches Schreiben und lebt in Leipzig. Für seinen Debütroman Sauhund (Hanser, 2023) erhielt er das Münchner Literaturstipendium 2021.

Ich muss bitte ganz rasch schön werden, denn gleich feiern wir Abschied, die Frau Eichinger und ich. Hektisch wuschle ich mir mit den Fingern durch die Haare, klettere dann aus meiner mit Apfelkompottspucke übersäten Montur. Hier unten riecht es immer ganz eigen, nach Heizöl, Petras Fixierhaarspray und hochdosiertem Essigreiniger. Das in die Betonmauer eingelassene Aluwaschbecken scheppert, während mir heißes Wasser die Hände und Unterarme versengt, aber je mehr meine Haut wehtut, desto ruhiger werde ich innerlich. Manchmal muss ich einen hellen Schmerz fühlen, damit die Welt wieder Sinn ergibt.

Ich wasche mir auch noch das Gesicht, aber mit kaltem Wasser, bevor ich erneut aufblicke und mich im gesprungenen Wandspiegel betrachte. Sakrament, noch keinen einzigen Gramm schöner. Das Deckenlicht hier unten im Personalumkleideraum des Altenheims ist erbarmungslos, ich sehe aus, als hätte ich den ganzen Sommer keinen Strahl Sonne gesehen oder als hätten sie mich hinterrücks mit Teppichbleiche übergossen. In fünfeinhalb Stunden bist du frei, Flori, das muss ich mir immer wieder selber sagen, damit ich es mir glauben kann. Dann bist du erfolgreich der Kaserne entgangen, weil deine tiefschürfende Darlegung von Gewissensgründen einen Oscar verdient hätte. Dann hast du deine sechzehn Monate Zivildienst hinter dir, legst dich in Puppling vor die Isar und stehst erst wieder auf, wenn dein Teint perfektes Karamell ist. Überreife Pfirsiche statt hohler Wangen, in die dann endlich jeder Mann aus dem Landkreis oder vielleicht sogar München beißen mag.

Der blasse Junge, der übernächtigt hinter den Spiegelscherben hervorlinst, ist mir unheimlich. Ich will ihn in die Waschtrommel packen, aber danach, wenn er wieder rauskommt, werden sie alle schauen. Naja, hoffentlich. Hastig schlüpfe ich in meine schlackernde Wechseluniform. Und schnell weg hier, bevor mich jemand beim Herumsandeln sieht, zurück die Metalltreppe hoch. Meine Schritte hallen von den nackten Wänden wider.

Gleich darauf sitze ich mit geröteten Händen und Unterarmen in einem Ohrensessel, der bei jeder Bewegung knarzt und angeblich zwei Weltkriege überstanden hat. Vielleicht der einzige Glanz in diesem senfgelben Wolfratshauser Altenheimzimmer, in dem vom Mittagessen noch ein leichter Geruch nach Kohlsuppe in der Luft hängt. Ein Gucklochfenster und eine abgeschlossene Glastür, die noch nie aufgesperrt, höchstens mal gekippt wurde, zum Parkplatz raus. Ich warte darauf, dass die Frau Eichinger mir jetzt ein Kompliment macht, weil ich mich extra hergerichtet habe, aber sie ist mal wieder beschäftigt, blättert mit spuckefeuchtem Zeigefinger in ihrer Fernsehzeitschrift herum. Mit Kugelschreiber kreist sie sich ihr Lieblingsprogramm ein, LeseZeichen, und nickt jedes Mal mit dem Kopf, wenn sie noch weitere Programmkracher entdeckt. Aus dem Kassettenrekorder rumpelt einer ihrer Rundfunkmitschnitte, eine Sinfonie oder sowas, mit Geigen, Klarinetten und Pauken, die sich alle zusammen und ohne abzubremsen in die Kurve legen. Ich stelle mir vor, zu dieser famos aufbrausenden Musik durch eine große Stadt zu flanieren, Paris oder Mailand, vielleicht auch über den Kudamm in West-Berlin, spüre die Brise, die mir die Nase umweht, die Sonnenwärme auf meiner Haut. Ich fühle mich für einen Augenblick völlig frei, wie direkt nach dem Zahnarzt, wenn man sich auf dem Heimweg zur Belohnung saure Zuckerschlangen beim Kramer holt, weil zum nächsten Termin jetzt wieder ewig lang hin ist.

Als ich kurz die Augen aufmache, sehe ich, dass Frau Eichinger zu zittern angefangen hat, und schon ist es dahin, mein kleines zuckriges Hochgefühl. Ihre dünnen weißlila Haare, die ich ihr am Morgen frisiert habe, der Versuch eines Mittelscheitels, stehen verloren in alle Richtungen.

»Soll ich Ihnen die grüne Steppjacken bringen?«, frage ich, »odern Ventilator ausschalten?«

Sie schüttelt erhaben den Kopf und ich verstehe, dass es nicht die Zugluft ist, die sie zum Zittern bringt, sondern diese andere Sache, über die sie mir zu sprechen verboten hat, weil wenn man Dinge nicht ändern könne, brauche man sich auch nicht jeden Tag den Mund darüber fusslig reden. Draußen, in der gleißenden Ferne hinter dem Personalparkplatz und dem schmalen Grünstreifen mit der Vogeltränke, springen zwei Jungs, vielleicht dreizehn oder vierzehn, in die Loisach. Meterhohe Fontänen, die man selbst durch die trübe Glastür nicht übersehen kann. Ein Tusch, bevor das musikalische Tempo auf der Rennfahrstrecke sich ändert, einen Gang zurückschaltet.

»Er hat immer des Eis aufgehackt im Februar, mein Bepp, ach, ein Irrer war des«, Frau Eichinger zeigt nach draußen, ihr Zeigefinger so dünn wie ein Bleistift. »Wo die nach Luft geschnappt hätten vor Kälte, die Bürscherl, hat der nicht mal mit der Wimper gezuckt, weil er eine Schau machen wollt. Hat mit eisernem Willen seinen Körper gefügig gemacht, mei, und stolz war der dadrauf, Sie machen sich keine Vorstellung!«

Sie hält kurz inne, ihr Blick, der ins Leere schrappt: »Tja, hab ihn wohl trotzdem überlebt na.«

Nach diesen Worten starrt sie philosophisch nach draußen und ich habe keine Ahnung, was ich antworten soll, sehe ihn plötzlich aber selbst vor mir, ihren Bepp: seinen verlebten Körper mit dem lichtem Brusthaar. Seine zähe Lederhaut, Dutzende Leberflecken, dazwischen glänzende Kriegsnarben, Albträume jede Nacht, wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug. Es schneit und der Alte steigt ins Eiswasser, stößt Dampf aus seinen Nüstern aus, als er mit über alles und jeden triumphierend zusammengekniffenen Lippen untertaucht. Genau in diesem Augenblick klatscht Frau Eichinger in die Hände, als wäre sie die offizielle Triangel-Frau des Orchesters, und ich komme wieder zu mir. Sie deutet auf den Einbauschrank, der sich in allen Damenappartements rechts neben der Tür befindet, bei den Herren links. Natürlich weiß ich, was zu tun ist.

Ich springe auf und öffne das rechte quietschende Türchen, doch bevor ich die Haselnusslikörflasche samt Schnapsgläsern hervorhole, betaste ich wie immer kurz den graumelierten Pelzmantel auf der Kleiderstange, oh, das süße weiche Fell. Sie hat mir mal erzählt, dass sie als junges Ding heimlich ihren windigen Regenmantel gegen dieses Luxusfell vertauscht habe, während einer Theatervorführung1931, vor über fünfzig Jahren, als die Beißzange von Garderobiere kurz eingeschlafen war. Ein echter Feh oder so ähnlich sei das, kein Schmarrn. Innenfutter aus Crêpe marocain, reinseiden, mit Hand gestickt. Er habe nach Trost ausgesehen, dieser Mantel, nach Allerheiligen und Sicherheit. Ihre Haut habe ihn sofort geliebt, und was man liebe, das gebe man nie mehr her!

»Findens den Likör ned?«, fragt sie ungeduldig, und ich reiße meine Hand von dem samtweichen Fell wie von einer heißen Herdplatte, stammle nur: »Doch, komm ja schon.«

Die Kristallflaschen klirren.Grassl Haselnuss steht in historischer Schreibschrift auf dem pappkartonbraunen Etikett. »Seit alter Zeit.« Darunter ist die Zeichnung eines niedlichen Eichhörnchens zu sehen, umgeben von Blattwerk und Ornamenten. Ein viel zu pappiges Zeug, das man wohl erst mit über siebzig verstoffwechseln kann. Ich werfe einen letzten Blick auf den Pelzmantel, lausche der Oboe oder Klarinette, was weiß denn ich, die uns so berührend was vorweint gerade. Dann schließe ich den Schrank wieder und stelle die Flasche auf das Tischchen zwischen unseren beiden Ohrensesseln, schaue Frau Eichinger zu, wie sie uns ruschlig einschenkt, aber zum Glück nichts verschüttet. Die samtbraune Farbe des Likörs im Glas widert mich aus Gewohnheit an.

»Bei mir nur halb«, sage ich, will mir nicht wieder den Magen verstimmen.

»Er hats ja schon lang hinter sich und Sie bald auch jetzt, nur ich sitz hier noch fest«, seufzt sie leise, als habe sie meine Bitte nicht gehört. »Mei, aber wer weiß, gell, wie langs na überhaupt noch geht bei — «

»Pssst jetzt, Frau Eichinger«, unterbreche ich sie, weil man solche Sprüche sofort im Keim ersticken muss. »Sie werden bestimmt mal über hundert, glaubens mir des mal, und ich komm eh oft auf Besuch, versprochen.«

Zumindest ein mattes Lächeln, das sie mir schenkt.

Beim Anstoßen fällt mein Blick auf den Kalender mit Blumenbildern, neben ihrem Pflegebett mit der Urinwanne darunter. Der Juni1983 ist der Monat des Enzians. Sie hat sich diesen Freitag, heute Nachmittag, mit Rotstift eingekreist. Wenn...