Claire
Claire trat ans Fenster und sah hinaus. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch der zarte Himmel, dessen Blau mit jeder Minute heller wurde, verkündete einen prächtigen Morgen. Vielleicht würde es noch einmal sommerlich heiß werden. Selbst wenn nicht, er war definitiv zu schön für den ersten Schultag nach den Sommerferien. Und doch war es vielleicht gut so, dass die Tage endlich vorbei waren, die, nachdem der Umzugsrummel sich gelegt hatte, so seicht dahingeplätschert waren, und nun endlich etwas Neues begann.
Sie sah ihr eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. Es war schmal und ebenmäßig, die gebräunte Haut zum Glück rein. Ihr schulterlanges, lockiges Haar schimmerte in einem goldenen Blond, die Augen und Wimpern dagegen waren dunkelbraun. Groß und schlank war Claire mit einer sportlichen Figur. Keine Frage, sie war ein Mädchen, das auffiel und das an bewundernde Blicke gewöhnt war, und doch fragte sie sich ein wenig bang, ob es hier in Frankreich so sein würde wie drüben in Amerika.
Claire konnte nicht behaupten, dass sie sich auf die neue Schule in einem ihr noch fremden Land freute. Vielleicht vermisste sie ihre Freundinnen und selbst die Lehrer ihrer alten Schule in New York zu sehr, aber aufgeregt war sie und fest entschlossen, sich von den Franzosen auf keinen Fall unterkriegen zu lassen. Das hatte sie Nancy versprochen.
Bei dem Gedanken an ihre beste Freundin und die erste Cheerleaderin ihres Teams wurde ihr Herz schwer. Warum nur hatte Dad dem Drängen ihrer Mutter nachgegeben? Es war ihnen in New York super gegangen. Dad hatte mit seiner Immobilienfirma genug Geld verdient, um ihnen eine großzügige Wohnung in Manhattan und ein Ferienhaus in Long Beach zu bieten. Maman war selbst schuld, dass sie Kunstgeschichte als Studienfach gewählt hatte. Schwerpunkt:Die Malerei der italienischen Renaissance. Nun hatte sie endlich eine Stelle gefunden in Frankreich, im Louvre in Paris. Ein Traum ging für sie in Erfüllung.
Nur dumm, dass sie und Dad für den Traum ihrer Mutter leiden mussten. Claire verdrehte die Augen.
Nun gut, wenn sie ehrlich war, hatte ihr Vater gar nichts dagegen gehabt, eine Niederlassung in Paris aufzubauen, und Maman hatte schon immer Sehnsucht nach Frankreich gehabt, wo sie aufgewachsen war und noch einige Mitglieder ihrer Familie lebten. Ihr Vater dagegen war Amerikaner, dessen Eltern nördlich von New York an der Ostküste wohnten.
Die Sonne ging auf. Claire beschirmte ihre Augen und sah nach Osten, wo sich am anderen Ufer der Seine die Silhouette des Eiffelturms erhob. Vielleicht war Paris gar nicht so schlecht. Die Stadt mit ihren Cafés, Kinos und Theatern gefiel ihr sogar ganz gut. Die breiten Straßen mit den alten Bäumen vor den meist aus dem 19. Jahrhundert stammenden Häuserfronten waren so ganz anders als die in den Himmel ragenden Wolkenkratzer Manhattans. Vielleicht würde sie sich hier wohlfühlen. Das kam jedoch ganz darauf an, wie sich der heutige Tag entwickelte und wie es in der neuen Schule lief.
»Claire? Wo bleibst du? Wir sollten bald los. Komm runter, du musst noch etwas essen.«
Claire wandte ihren Blick vom Eiffelturm und der dahinter aufsteigenden Sonne ab und lief die Treppe hinunter in die Küche. Das Penthouse, das sie bewohnten, war groß, es erstreckte sich über zwei Stockwerke und verfügte über eine Dachterrasse, von der aus man über d