1. KAPITEL
Roxy
»Sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte ich, als Shaw den Blinker setzte und wir gleich darauf von der Autobahn abfuhren.
»Viele Wege führen zum Ziel«, erwiderte er nur und sah kurz auf das Navigationssystem auf seinem Handy. Das führte ihn an diesem Morgen nicht zum nächsten Geist, den es in die Unterwelt zurückzuschicken galt, sondern zu einer Raststätte, die nur aus einem großen Gebäude, einer Tankstelle, einem riesigen Parkplatz und einigen verlassenen Bänken und Tischen bestand.
Ich drehte mich auf dem Beifahrersitz um und warf einen schnellen Blick auf die Rückbank. Ella saß schweigend da und starrte aus dem Fenster, schien in Gedanken aber ganz woanders zu sein. Aus ihren großen Kopfhörern schallte unverständliche Musik, wie schon die ganze Zeit während unseres kleinen Roadtrips. Nach unserem Abschied aus Edinburgh vor knapp zwei Wochen waren wir zunächst zurück nach London gefahren. Dann hatten uns die Koordinaten, die Wardens Ghostvision-Gerät ausspuckte, durch den Eurotunnel nach Frankreich geführt und von dort aus, mit einigen Zwischenstopps in Luxemburg und Belgien, durch die Schweiz bis nach Deutschland. Aber wo genau wir gerade waren, wusste ich immer noch nicht.
»Dein Ziel scheint essen zu sein«, kommentierte ich trocken und deutete auf die Werbung in den Fenstern.
»Deins nicht? Ich bin enttäuscht, Darling.« Er zwinkerte mir zu und schaltete den Motor aus.
Stille hüllte uns ein, denn auch Ella hatte ihre Musik ausgemacht und die Kopfhörer abgenommen. »Warum halten wir?«
»Shaw will etwas essen.«
»Frühstücken«, korrigierte er. »Und tanken. Wir waren fast die ganze Nacht unterwegs. Übrigens sind wir hier gerade am Rande des Mittleren Schwarzwalds«, fügte er hinzu, stieg aus und streckte sich ausgiebig.
»Das erklärt die ganzen Bäume«, murmelte ich und stieg ebenfalls aus. Von zu Hause in Irland war ich weite grüne Felder, steile Klippen und die immer gleichen niedrigen weißen Steinmauern gewöhnt. Wälder spielten eine untergeordnete Rolle in meinen Naturerfahrungen.
Der Himmel war bedeckt und ein kühler Wind wehte, aber es lag kein Schnee. Alles wirkte grau und diesig. Außer uns standen nur ein einziges anderes Auto und einige LKW auf dem Parkplatz. Wenn ich mich nicht irrte, war es wenige Tage vor Silvester, wahrscheinlich lieferten sie die letzten Waren vor dem Feiertag aus.
Shaw trat neben mich und lehnte sich gegen seinen leuchtend blauen 1969er Chevrolet Camaro. »Wie viele sind noch übrig?«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich das kleine Gerät hervorgezogen hatte, das knapp in meine Handfläche passte und nur einen Tropfen Blut von mir brauchte, um den nächsten Spirit zu lokalisieren, den ich vernichten musste. Seit Warden den Ghostvision, wie er das Ding getauft hatte, zum Laufen gebracht hatte, war es mir innerhalb kürzester Zeit gelungen, mehr Seelen zurückzuschicken als in den ganzen Monaten zuvor. 449 Geister waren es zu Beginn gewesen, die ich wieder in die Unterwelt verbannen musste. Aber wie viele davon jetzt noch übrig waren …? »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Das war die Wahrheit, denn ich hatte sie nie gezählt. Wobei das nicht ganz stimmte. Am Anfang hatte ich noch eine Strichliste in meinem Kopf geführt, doch irgendwann hatte ich mich verzählt und ab da war es sowieso egal. Ich steckte das Gerät wieder ein und rieb mir über die Schulter, dort, wo sich unter der Kleidung die Narbe befand, die von dem Biss des Höllenhundes stammte. Seit ich London zusammen mit Finn, Shaw und Warden verlassen hatte und nach Edinburgh aufgebrochen war, waren einige Wochen vergangen und mittlerweile war sie merklich kleiner geworden. Aber nicht klein genug. Da draußen gab es auch jetzt noch zu viele Seelen, die ich ungewollt freigelassen hatte und wieder einfangen musste. Und zwar bevor meine Ze