Kapitel 1
Kyoto, vor achtzehn Jahren
»Yoko bedeutet Sonnenkind«, sagte das Mädchen und schlug mit seinem knallroten Sonnenschirm auf den Boden. »Aber ich glaube, das war meinen Eltern egal, als sie mir den Namen gegeben haben.« Noch einmal ließ sie den Sonnenschirm auf den Boden knallen. Diesmal heftiger. Sie zerquetschte Ameisen mit dem Schirm. »Und was bedeutet dein Name?«
»Sachiko heißt Segen«, antwortete Sachiko. Sie blickte auf das Wasser des Kamo-Flusses vor ihr. Sie fand es wunderschön, wie sich der Mond im Wasser spiegelte. »Und meine Eltern haben ihn extra für mich ausgesucht.«
»Und? Bringst du deinen Eltern Segen?«
»Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben«, sagte Sachiko betrübt. »Und mein Vater würde wohl eher vonSchande sprechen, wenn er mitbekommt, dass ich mich nachts mit dir am Fluss herumtreibe.«
Yoko lachte. Sie besaß ein schönes Lachen, fand Sachiko. Yoko besaß eine lockere und unbeschwerte Natur, obwohl sie es im Leben nicht immer leicht hatte. Neben der Schule musste sie viele Stunden hart arbeiten. Ihr Vater besaß eine Schuhwerkstatt, in der sich Yoko beinah jede Sekunde ihrer Freizeit aufhielt. Vom Nähen der Schuhe waren ihre Hände ganz rau und rissig.
»Ich werde mal Geisha.« Wie fest entschlossen sie war, zeigte Yoko, indem sie den knallroten Sonnenschirm in der Luft herumwirbelte. An dessen Spitze klebten tote Ameisen. »Eine Geisha, stark und schön. Niemand wird mir widerstehen können.«
»Eine Geisha, die Insekten zerdrückt?«, fragte Sachiko skeptisch.
»Ja, warum nicht?« Yoko streifte mit dem Daumen die Schirmspitze entlang. Die toten Ameisen hingen nun daran. Lässig schüttelte Yoko sie ab. »Eine Draufgänger-Geisha.«
»Du musst den Männern gefallen, du musst schön sein«, meinte Sachiko. »Es gefällt Männern sicher nicht, wenn du irgendwas plattmachst.«
»So? Was willst du denn werden? Das hässliche Entlein?«
»Warum nicht?«, antwortete Sachiko. »Mein Vater sagt immer: Wer schön sein will, muss leiden. Und ich bin ein Segen, hast du nicht gehört? Ich muss nicht leiden.«
Die beiden Mädchen kicherten.
Sachiko betrachtete den Neubau, vor dem die beiden standen. Loftwohnungen, direkt am Ufer des Kamo-Flusses. Das Gebäude übte eine gewisse Faszination auf Sachiko aus. Sie fand es schön anzusehen, warum, wusste sie nicht recht.
»Ich weiß, was ich machen will, wenn ich groß bin.« Sachiko wandte sich Yoko zu.
»Und was?«
»Häuser bauen.«
»Häuser bauen?«
»Ja, ist das nicht spannend? Sie haben einen deutschen Architekten geholt, der sich monatelang dieses Haus dort ausgedacht hat.« Sachiko deutete auf eine der Wohnungen, in der Licht brannte. »Guck mal, wie hoch die Dachgiebel dort sind! Sieht das nicht cool aus?«
»Na, du bist mir mal ein komischer Segen!« Yoko kicherte und stupste Sachiko an.
Hinter ihnen war plötzlich ein lautes Knacken zu hören. Als ob jemand auf einen Ast getreten wäre, der nachgegeben hatte und brach. Das Geräusch wurde übers Wasser getragen, hallte am Ufer wider.
Es war so spät und so still, dass es den Mädchen wie ein lauter Donnerknall vorkam.
Erschrocken fuhren sie herum. Doch bis auf tiefe Dunkelheit war nichts am Ufer zu erkennen.
»Nicht schon wieder …«, flüsterte Yoko.
»Nicht schon wieder?« Sachiko wandte sich zu Yoko. »Was meinst du?«
Yoko antwortete nicht. Ihr Atem ging hektisch.
Sachiko fasste sie bei der Schulter. »Yoko, wer ist da?«
»Sie beobachtet mich …«
»Wer beobachtet dich?«
»Ich weiß es nicht. Sie war vor ein paar Tagen schon einmal da.« Yoko umklammerte ihren knallroten Sonnenschirm. »Es ist jedes Mal, als würde sie plötzlich hinter