Kapitel 1
Oktober 1926
Ruth drückte sich die Nase an der kalten Fensterscheibe platt; es war Freitagabend, und ihr Vater würde endlich wieder nach Hause kommen. Die Woche über war er unterwegs gewesen und hatte seine Schuhkollektion vorgestellt.
»Ruth?«, hörte sie ihre Mutter fragen. »Wo bist du?«
»In der Diele, ich warte auf Vati.«
»Es kann noch dauern, bis er kommt.«
»Aber es ist Freitag, und gleich wird es dunkel. Wir wollen doch mit ihm zusammen die Kerzen anzünden!«
Martha lächelte und drückte ihre Tochter an sich. »Ach, du weißt doch, Vati ist das nicht so wichtig.«
»Wirst du es ihm erzählen?«, fragte Ruth leise und kuschelte sich an ihre Mutter.
»Ja, Ruth, natürlich. Aber er wird bestimmt nicht schimpfen, sondern sich freuen, dass nicht mehr passiert ist.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ja, das tue ich.« Martha strich ihr beruhigend über die Haare. Karl würde allerdings sehr besorgt sein, doch das musste ihre Tochter nicht wissen.
»Jetzt aber los, bevor Vati kommt, müsst ihr noch baden. Und wenn ihr fertig seid, können wir schon einmal die Kerzen anmachen.«
»Auja!«, rief Ruth begeistert. »Und dann erzählst du uns eine Geschichte.«
Martha sah ihrer Tochter hinterher, die eilig durch den Flur Richtung Badezimmer lief, wo Leni, das Kindermädchen, sicher schon die Wanne eingelassen hatte und mit Ilse, der Jüngsten, auf sie wartete.
Dann ging ihr Blick wieder zur Straße. Langsam begann es zu dämmern, und die wenigen Laternen, die den Bürgersteig säumten, gingen an. Bestimmt würde Karl erst lange nach Sonnenuntergang kommen. Kurz nach dem Großen Krieg hatte Karl begonnen, seine Schuhkollektionen am ganzen Niederrhein zu vertreiben. Er hatte einen guten Blick für die kommende Mode. Die Schuhe, die er im Frühjahr und Herbst bei den Herstellern kaufte, waren sehr beliebt, und über die Jahre hatte er sein Geschäft immer weiter ausbauen können. Am Anfang reiste er mit dem Zug, mittlerweile besaß er ein Automobil. Für Martha ein erneuter Anlass zur Sorge, denn von Rudi Becker, dem Chauffeur, den Karl hatte anstellen müssen, weil er wegen seiner starken Kurzsichtigkeit nicht selbst fahren konnte, hielt sie nicht viel.
Martha seufzte, sie hatte sich abgewöhnt, auf Karl zu warten. Am Anfang ihrer Ehe war es schwerer gewesen. Sechs Jahre waren sie nun verheiratet, und seit sechs Jahren wohnten sie hier in diesem Haus auf der Drießendorfer Straße. Sie hatten damals verzweifelt nach einer schönen Wohnung zur Miete gesucht, doch ohne Erfolg. Vielen Vermietern waren sie zu jung gewesen, einige wollten sie nicht haben, weil sie jüdisch waren. Immer noch war Marth