: Jens Jessen
: Anne Hamilton
: Was vom Adel blieb Eine bürgerliche Betrachtung
: zu Klampen Verlag
: 9783866747234
: zu Klampen Essays
: 1
: CHF 10.70
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 104
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit der Abschaffung seiner Standesvorrechte im Jahre 1919 verlor der Adel die Reste des Einflusses, die ihm in Deutschland nach einem langen und schleichenden ökonomischen Niedergang geblieben waren. Dennoch steht gerade die Hocharistokratie auch heute noch im Rampenlicht und füllt zuverlässig die Spalten der Klatschpresse. Statt dem europäischen Adel nur mehr einen gewissen Unterhaltungswert zuzubilligen, spräche manches dafür, ihn als eine Art genetisches Weltkulturerbe zu betrachten: kostbar und bedroht. Denn aristokratische Lebensform und höfische Etikette haben über ein Jahrtausend die abendländischen Umgangsformen geprägt und ihre Spuren bis in unsere Gegenwart hinterlassen. Jens Jessen widmet sich in seinem Essay den schönen und staunenswerten Überbleibseln einer Vormoderne, die unserer verbürgerlichten Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten geeignet sind. In diesem Spiegel sehen wir nicht nur, was der demokratische Fortschritt überwunden und besiegt, sondern auch, was er verloren und der Verachtung preisgegeben hat.

Jens Jessen, geboren 1955 in Berlin, arbeitete nach dem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und München zunächst als Verlagslektor, dann als Reiseredakteur, Feuilletonredakteur und Berliner Korrespondent bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Seit 1996 war er Feuilletonchef bei der »Berliner Zeitung «, ab 1999 dann bei der »ZEIT«. Seit 2012 ist er bei der »ZEIT« Feuilletonredakteur. Immer wieder nahm er Lehraufträge an den Universitäten Leipzig und Basel wahr und hat diverse Veröffentlichungen vorzuweisen, unter anderem »Deutsche Lebenslügen« (Essays, 2000) und »Im falschen Bett« (Roman, 2014).

Stolz ohne Leistung


DER Spiegel, den uns der Adel vorhält, ähnelt in gewisser Hinsicht dem Spiegel, den uns das Lumpenproletariat vorhält, das es aller Schönrednerei zum Trotz noch immer in Form dauerhaft erwerbsloser oder prekär beschäftigter Menschen gibt. Hier wie dort, am unteren wie am ehemals oberen Rand der Gesellschaft, herrscht die gleiche Bedeutungslosigkeit von Arbeit und Leistung. Es gelten nicht Tun und Haben, sondern das reine Sein. Als Graf wird man geboren; das lässt sich durch Berufserfolge nicht steigern, durch Armut und Untüchtigkeit aber auch nicht nennenswert mindern. Insofern fehlt jene Vergötzung der Leistung, die für den bürgerlich mobilen Teil der Gesellschaft so charakteristisch ist. Gleichgültigkeit gegenüber Anstrengung und Tüchtigkeit findet sich aber auch in den Milieus, deren Angehörige seit langem auf staatliche Hilfe angewiesen sind – ein Status, der oft ebenfalls durch Geburt erworben und über Generationen weitergegeben wird. Was die Unverlierbarkeit des Adelsprädikats für den Grafen ist, ist für den geborenen Sozialhilfeempfänger die Unerreichbarkeit von auskömmlicher Arbeit, öffentlicher Teilhabe und Anerkennung.

Man muss die Asymmetrie der Bedingungen und Lebensumstände nicht unterschlagen, um die Parallele zu erkennen. Selbstverständlich ist der Aristokrat eher selten obdachlos (es sei denn nach einer Revolution) oder wohnt nur selten dauerhaft in einer Laube (es sei denn ehedem in der Sowjetunion).1 Wenn es aber so wäre, würde es wenig ändern. Sein gesicherter, durch Besitz und Leistung nicht weiter beeinflussbarer Status ist ihm gewissermaßen von Anfang an auf dem Lebenskonto gutgeschrieben, während sie dem Lumpenproletarier erst durch ein dauerhaftes Leistungsminus bewusst wird: als ein Sockelbetrag, der wunderbarerweise nicht abgebucht werden kann. Er fällt gewissermaßen auf die Würde des bloßen Seins zurück, nachdem die Unbeeinflussbarkeit seiner Umstände durch Arbeit und Tüchtigkeit offenbar geworden ist.

In der Sozialpsychologie gilt die oft übersehene Regel, dass Resignation einen ähnlichen Grad der Unabhängigkeit wie der Adelsstolz erzeugt. Im übrigen sollte aber auch der Stolz nicht unterschätzt werden, mit dem der Dauerarbeitslose, vielleicht noch im Unterhemd, aber schon mit einem Bier in der Hand, dem beschäftigten Teil der Gesellschaft gegenübertritt. Wenn er sich überhaupt für den besorgten Nachbarn oder Sozialarbeiter interessiert, der ihn aus der Mittagsruhe scheucht, wird er ihn mit der gleichen Kälte mustern wie in alten Zeiten der Aristokrat den Krämer, der verlegen in der Halle des Schlosses seinen Hut in den Händen dreht und Außenstände eintreiben möchte.

Der Grund liegt in der perspektivischen Distanz. Sie ist keine Frage von oben und unten. Wie der Krämer für den Schlossherrn ist der besorgte Nachbar oder Sozialarbeiter für den Dauerarbeitslosen nur der Vertreter einer fernen Welt von ärgerlichen Regeln, deren Befolgung keinen Nutzen verspricht. Nichts wäre gewonnen für den Grafen, wenn er seine Schulden bezahlte, er hätte nur Geld verloren. Gerichtsvollzieher waren in Feudalzeiten kaum zu fürchten, sie konnten ignoriert werden; im übrigen verbat es die Ehre, Schulden pünktlich zu bezahlen, es hätte den Eindruck von Eilfertigkeit gemacht.2 Genauso klar und stolz (oder mit genauso wenig Verständnis für die Paragraphenwelt) sieht der notorische Empfänger staatlicher Unterstützung, dass er nur sein bisschen Schwarzgeld verlöre, wenn er sich auf die Kontrolleure der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft einließe. Sie gelten ihm als gänzlich bedeutungslose Boten aus einer für ihn gänzlich bedeutungslosen Welt, die ihm nichts geben wird und der er schon deswegen nichts schuldet.

Um die strukturelle Parallele zu erkennen, reichte es im Grunde schon, das soziale Bewegungspro