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Berlin, Mai 1952
Die Höhle war seit jeher ein Geheimnis, das nur sie beide teilten. Im Schutz des kuschligen Federbetts schrumpften kindliche Nöte und Ängste auf Miniaturformat, bis sie sich schließlich ganz auflösten, denn die vertraute Nähe des anderen schenkte Trost und Mut. Zusammen fühlten sie sich stark genug, um der ganzen Welt die Stirn zu bieten. Irgendwann konnte man dann wieder gemeinsam auftauchen – verschwitzt, aber gelöst.
Heute, in der Dämmerung, als im Hof bereits die Vögel zu zwitschern begannen, war es beinahe wie früher: Oskars Kopf ruhte in Silvies Armbeuge; seine Lider waren geschlossen, die Wimpern bewegten sich leicht. Die alte Narbe auf der Stirn vom Rolltreppensturz im Kaufhaus Thalheim war kaum noch sichtbar. Sein Gesicht wirkte entspannt; für den Moment schienen alle Albträume besiegt, auch wenn er kein kleiner Junge mehr war, der Schutz bei seiner Zwillingsschwester suchte.
Er war ihr Alter Ego, ihr Herzensmensch, der Nächste vor allen anderen. Nicht einen Augenblick hatte sie daran geglaubt, dass er tot sein könnte. Silvie hatte in den Jahren nach dem Krieg auch dann noch auf den Suchdienst des Roten Kreuzes gehofft, als die anderen Thalheims längst die Hoffnung aufgegeben hatten, weil jede Nachricht ausblieb. Oskar lebt, das hatte sie die ganze Zeit über gespürt. Als grünen Jungen hatten die Nazis ihn nach dem Notabitur an der Ostfront verheizt, als erwachsener Mann, versehrt an Körper und Seele, war er vor einem knappen Jahr endlich nach Berlin zurückgekehrt.
Sie strengte sich an, bloß nicht zum Bettende zu schauen. Ihr Bruder hatte immer die schönsten Füße der ganzen Familie gehabt: schmal, perfekt geformt, mit einem eleganten Spann, der jedem Balletttänzer Ehre gemacht hätte. Jetzt fehlten ihm links vier Zehen, erfroren in den eisigen Wintern Russlands, und später im Lagerlazarett wüst abgesäbelt, ohne Narkose, wie er einmal scheinbar nebenbei erwähnt hatte.
Immerhin hatte Oskar Thalheim drei Jahre Krieg und fast sieben endlose Jahre russische Gefangenenlager überlebt. Andere hatte es schlimmer getroffen, viel, viel schlimmer.
Was bedeuteten da schon vier verlorene Zehen?
Er wiederholte diesen Satz ständig, offenbar in der Hoffnung, irgendwann selbst daran zu glauben. Dass es bestenfalls ein Teil der Wahrheit war, wussten sie beide. Silvie spätestens seit seiner ersten Nacht in Oma Fridas einstiger Wohnung in der Bleibtreustraße, in der sie bis vor kurzem zusammen mit ihrer Schwester Rike gelebt hatte. Oskars gellende Schreie aus dem Nachbarzimmer hatten sie im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen; für ein paar Augenblicke war sie wie gelähmt gewesen. Dann stand er schon im Türrahmen, die blonden Haare zerrauft, das Gesicht angstvoll verzerrt.
«Sie kommen, Silvie, all die Toten sind auf dem Weg!»
Unwillkürlich schlug sie die Decke zurück, so wie sie es immer getan hatte, und er kroch zu ihr ins Bett, am ganzen Körper zitternd, bis ihre Wärme ihn schließlich beruhigte.
«Niemand kommt, Brüderchen», flüsterte sie, die Arme fest um ihn geschlungen. «Und wenn doch, dann können sie was erleben, das versprech ich dir! Immerhin bin ich ja acht Minuten älter als du …»
Sie mussten lachen, alle beide, danach begann er zu weinen, und sie hielt ihn fest, bis seine Tränen v