II. Plurale (jüdische) Zugehörigkeiten: Diskriminierung, Inklusion, Heterogenität
Einleitung
Kein Mensch hat nur eine Zugehörigkeit. Vielmehr sollte das Wort meist im Plural stehen und auch im Singular plural verstanden werden: Wir alle haben unterschiedliche Zugehörigkeiten, und insoweit es um eine bestimmte Zugehörigkeit geht, kann diese sehr verschieden verstanden und gelebt werden. Entsprechend heterogen ‚sind‘ die Berliner*innen: Sie sprechen viele und oft mehrere Sprachen, leben atheistisch, säkular, praktizierend bzw. gläubig, sind erwerbslos, studieren, arbeiten mehr oder weniger gut bezahlt, verstehen sich als non-binary, weiblich, männlich, inter*, trans*, lieben queer*hetero, sind unterschiedlichen Alters und of Colour oderweiß, in Ost- oder Westberlin, der west- oder ostdeutschen ‚Provinz‘ aufgewachsen oder/und haben Lebensorte oder/und familiäre Bezüge in Ländern und Regionen Europas, Asiens, den Amerikas oder Afrikas. Jüdisch ‚zu sein‘ ist eine Zugehörigkeit quer zu und in dieser Vielfalt und kann u. a. heißen, aktives Mitglied einer Gemeinde (gewesen) zu sein, säkular-gläubig oder praktizierend-nicht-gläubig zu sein, Kind jüdischer Mutter oder jüdischen Vaters zu sein, sich mit jüdischer Geschichte und Kultur auseinanderzusetzen oder zu identifizieren oder diesen Dingen keine Aufmerksamkeit zu schenken – bis andere das auf problematische Weise tun (vgl. Kapitel I, b – f).54
Der Umstand, dass Zugehörigkeiten nicht ausschließlich selbstbestimmt gelebt werden (können), sondern in einem Spannungsfeld entstehen, dessen negativer Pol aus Zuschreibungen, Ausgrenzung und Gewalt besteht55, macht es notwendig, sie auch zur Grundlage politischen Handelns für Teilhabe und Anerkennung zu machen. Angesichts der Pluralität ihrer Zugehörigkeiten erfahren und antizipieren jüdische Berliner*innen Antisemitismus und – verknüpft mit oder unabhängig von diesem – andere Formen der Diskriminierung.56 Und je nach subjektiven Relevanzsetzungen engagieren sich Juden*Jüdinnen in Berlin für Teilhabe und Anerkennung in Initiativen und Organisationen, die jeweils bestimmte Zugehörigkeiten in den Vordergrund stellen, also z. B. in feministischen, queeren, sozialpolitischen, jüdischen oder/und antisemitismuskritischen Zusammenhängen. Die Kunst in der Bildung solcher Communities und Bewegungen besteht darin, die jeweils vordergründigen Zugehörigkeiten als „strategische Essentialismen“ (Spivak 1993, 3 ff.) zu verstehen, die innere Heterogenität im Blick zu halten und den Zusammenschluss mit anderen Communities und Bewegungen zu suchen (vgl. Kapitel III).57
In der Geschichte von sozialen Gemeinschaften (Communities) und sozialen Bewegungen ist es dabei immer wieder zu Ausschlüssen bestimmter Gruppen gekommen, weil Communities und Bewegungen selbst von Machtverhältnissen durchdrungen sind und weil die Art und Weise, wie Zugehörigkeiten verstanden werden und wie den mit ihnen einhergehenden Diskriminierungserfahrungen analytisch, diskursiv, (sozial-) politisch und rechtlich begegnet wird, im (jeweiligen) Mainstream unterkomplex ist.58 Diesen Umstand hat Kimberle Crenshaw (1991) mit Blick auf die gesellschaftliche Position, soziale Identität und mangelnde Repräsentation von Women of Colour in konkreten Konstellationen angesprochen und dabei den Begriff der Intersektionalität geprägt.59<