: Ray Bradbury
: Das Böse kommt auf leisen Sohlen
: Diogenes
: 9783257604108
: 1
: CHF 12.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eines Nachts kommt heimlich und verstohlen ein Jahrmarkt in eine kleine Stadt in Illinois und schlägt seine Zelte auf. William »Bill« Halloway und James »Jim« Nightshade, zwei Jungs aus der Stadt, spüren als Erste, dass mit dem Jahrmarkt etwas nicht geheuer ist. Sie entdecken das dunkle Geheimnis eines Karussells, das auf zerstörerische Weise in das Leben der Fahrgäste eingreift. Ihre Entdeckung bleibt nicht unbemerkt: Auf leisen Sohlen, aber unerbittlich werden die Jungen vom Bösen verfolgt und in die Enge getrieben.

Ray Bradbury, geboren 1920 in Waukegan (Illinois), wurde gleich mit seinem ersten Roman ?Fahrenheit 451?, den François Truffaut verfilmte, berühmt. Bekannt für seine Science-Fiction schrieb Bradbury auch Kinderbücher, Gedichte und Drehbücher wie jenes zu ?Moby Dick? von John Huston. Ray Bradbury starb 2012 in Los Angeles.

[17] Erstes Kapitel

Der Blitzableiterverkäufer kam kurz vor dem Gewitter. Am Spätnachmittag dieses wolkenverhangenen Oktobertages ging er die Hauptstraße von Green Town entlang und warf immer wieder verstohlene Blicke über die Schulter. Irgendwo da hinten, gar nicht weit entfernt, erbebte die Erde unter gewaltigen Blitzen. Irgendwo spürte er das Gewitter, dieses riesige Ungeheuer mit den schrecklichen Zähnen.

So ging der Vertreter von Tür zu Tür, klapperte mit seiner überdimensionalen Ledertasche voller seltsamer eiserner Puzzles und sagte immer wieder sein Sprüchlein auf, bis er an den Rasen kam. Hier stimmte etwas nicht. Er war ganz falsch gemäht.

Nein. Es war nicht der Rasen. Der Vertreter hob den Blick. Es waren die beiden Jungen, die oben auf einem kleinen Hügel im Gras lagen. Die beiden Jungen waren ungefähr gleich groß und gleich kräftig. Sie saßen da, schnitzten Weidenpfeifen und redeten über Vergangenes und Künftiges. Den ganzen vergangenen Sommer über war in Green Town nichts vor ihnen sicher gewesen, was nicht niet- und nagelfest war; jeder Weg und Pfad, jeder Quadratfuß Boden zwischen hier und dem See trug ihre Fußspuren, seit die Schule wieder begonnen hatte.

»Hallo, Jungs!« rief der Mann im sturmfarbenen Mantel. »Jemand zu Hause?«

Die Jungen schüttelten die Köpfe.

»Habt ihr etwas Geld?«

Die Jungen schüttelten die Köpfe.

»Hm…« Der Vertreter kam noch zwei oder drei Schritte näher, dann blieb er stehen und zog die Schultern ein. Plötzlich schienen ihn die Fenster eines Hauses anzustarren, oder vielleicht war es auch der kalte Blick eines Wolkenauges, den er im Nacken spürte. Er drehte sich langsam um und hob die Nase in den Wind. Der rüttelte an den kahlen Bäumen. Durch ein[18] Wolkenloch brach ein feiner Sonnenstrahl und malte die letzten Eichenblätter an den Zweigen golden an. Aber dann verschwand die Sonne, der Schimmer verblich, alles verfloß grau in grau. Der Vertreter löste sich von dem Bann.

Langsam ging er durch das Gras den Hügel hinauf.

»Wie heißt du denn, mein Junge?«

Der erste Junge, weißblond wie eine Distel, kniff ein Auge zu und blinzelte den Vertreter an. Sein offenes Auge schimmerte groß, hell und klar wie ein Tropfen Sommerregen.

»Will«, antwortete er. »Will Halloway.«

Der gewittergraue Herr wandte sich an den zweiten. »Und du?«

Der zweite Junge regte sich nicht. Er lag bäuchlings im Herbstgras und überlegte, ob er nicht lieber einen Namen erfinden sollte. Sein wirrer, dichter Haarschopf glänzte wie eine polierte Kastanie. Seine smaragdgrün schimmernden Augen blickten starr auf einen fernen Punkt – irgendwo tief in seinem Innern. Schließlich schob er sich lässig einen Grashalm zwischen die Lippen.

»Jim Nightshade«, murmelte er.

Der Gewittermann nickte, als hätte er d