: Eugène Sue
: Die Geheimnisse von Paris. Band II Historischer Roman in sechs Bänden
: apebook Verlag
: 9783961301980
: 1
: CHF 2.50
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: Historische Romane und Erzählungen
: German
Entführung, Mord und Prostitution: Eugène Sues 'Die Geheimnisse von Paris' entführt die Leser in die elenden Arbeiterviertel und die Unterwelt von Paris im Jahre 1838. In den schmutzigen Spelunken, wo sich die Verbrecher der Stadt treffen, werden finstere Pläne geschmiedet, während sich in den schicken Salons der adligen Oberschicht familiäre Dramen abspielen, aber um jeden Preis die Fassade gewahrt werden muss. Der Moloch Paris lässt hier mit seiner Enge, seinem Dreck und den allgegenwärtigen Verbrechen die Menschen verrohen. Und mitten in diesem Sumpf der zwielichtigen Gassen des Großstadtdschungels erscheint wie aus dem Nichts ein fremder Retter, der sich den Hilflosen und Entrechteten zur Seite stellt, um das Boshafte zur Rechenschaft zu ziehen. Auf insgesamt knapp 2000 Seiten entfaltet sich ein detailreiches und farbenprächtiges Bild des Pariser Alltags Mitte des 19. Jahrhunderts. Dutzende von Figuren aus unterschiedlichen sozialen Ständen und ihre Geschichten werden mit dem Haupthandlungsfaden des Werkes verwoben. Sue verbindet Elemente des Kriminalromans, des Gesellschaftsromans und des Melodrams und erschafft daraus ein bildgewaltiges Epos einer vergangenen Zeit, das durch sein Rachemotiv und die intriganten Verwicklungen zuweilen an den Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas erinnert, der von Sue inspiriert wurde. Der Abenteuer-Klassiker liegt hier in der ungekürzten Übertragung ins Deutsche von August Diezmann vor. Zeichensetzung und Rechtschreibung der Erstübertragung wurden teilweise dem heutigen Sprachgebrauch angenähert, teilweise beibehalten. Dies ist der Versuch eines Kompromisses zwischen einem Zugeständnis an die Lesegewohnheiten heutiger Leserinnen und Leser sowie der Bewahrung des damaligen Sprachkolorits, welches wesentlich zur Atmosphäre der Geschichte beiträgt. Dieses ist der zweite von sechs Bänden des monumentalen Werkes. Der Umfang des zweiten Bandes entspricht ca. 350 Buchseiten.

I. Tom und Sarah.


Sarah Seyton, damals Witwe des Grafen Mac Gregor und sieben- bis achtunddreißig Jahre alt, stammte aus einer trefflichen schottischen Familie und war die Tochter eines Landedelmannes.

Im siebzehnten Jahre verwaiset, von vollendeter Schönheit, hatte Sarah mit ihrem Bruder Tom Seyton von Halesbury Schottland verlassen.

Die albernen Prophezeiungen einer alten Hochländerin, ihrer Wärterin, hatten die beiden Hauptfehler Sarah's, den Stolz und den Ehrgeiz, fast bis zum Wahnsinn gesteigert, indem sie ihr mit einer unglücklichen ausdauernden Überzeugung das höchste Geschick — warum es nicht sagen? — einen Thron, verhießen.

Die junge Schottin glaubte an die Prophezeiung jener Wärterin und sprach sich selbst, um ihren ehrgeizigen Glauben zu befestigen, fortwährend vor, daß eine Wahrsagerin der schönen und vortrefflichen Creolin, die auf dem Throne Frankreichs saß und Königin war durch Anmut und Herzensgüte, wie es Andere durch Majestät sind, die Krone ebenfalls prophezeihet hatte.

Seltsam! Tom Seyton, der so abergläubisch war wie seine Schwester, bestärkte diese in ihren törichten Hoffnungen und hatte sich vorgenommen, der Verwirklichung des Traumes Sarah's, des eben so blendenden als unsinnigen Traumes, sein Leben zu widmen.

Der Bruder und die Schwester waren indes nicht so verblendet, daß sie fest an der Prophezeiung der Hochländerin hielten und auf einen Thron vom ersten Range spekulierten, sekundäre Königreiche und souveraine Fürstentümer aber verachteten; nein, wenn nur auf der Stirn der schönen Schottin einst eine Krone glänzte, die Größe der Besitzungen derselben beachtete das ehrgeizige Paar weiter nicht.

Nach dem Gothaischen Hofkalender von 18.. entwarf Tom Seyton kurz vor der Abreise aus Schottland eine Tabelle von allen Königen und souveränen Fürsten Europa's, die damals heiratsfähig waren.

Der Ehrgeiz der Geschwister war, wenn auch sehr absurd, doch rein und frei von jedem schmachvollen Mittel; Tom sollte seiner Schwester beistehen das Eheband zu schlingen, mit welchem sie irgend einen Kronenträger zu fesseln hoffte; er sollte Theil nehmen an jeder List, an allen Intrigen, welche zu diesem Zwecke führen könnten, aber lieber hätte er gewiß seine Schwester umgebracht, als zugegeben, daß sie die Maitresse eines Fürsten würde.

Die Nachforschungen in dem Gothaischen Hofkalender gaben ein befriedigendes Resultat; Deutschland zumal hatte eine ziemliche Anzahl junger mutmaßlicher Thronerben; Sarah war Protestantin und Tom wußte, wie leicht es in Deutschland den Fürsten ist, eine Ehe zur linken Hand einzugehen, die übrigens vollkommen rechtmäßig ist und in die er im Nothfalle für seine Schwester eingewilliget haben würde. Beide entschlossen sich also, zuerst nach Deutschland zu gehen.

Wenn man den Plan für unwahrscheinlich, diese Hoffnungen für unsinnig hält, so antworten wir darauf, daß ein maßloser Ehrgeiz, der überdies noch durch Aberglauben gesteigert wird, in seinen Plänen und Ansichten selten vernünftig ist und meist nur das Unmögliche versucht, und wenn man sich gewisser zeitgeschichtlicher Tatsachen von hohen morganatischen Ehen zwischen souveränen und einer Schönen aus ihren Untertanen erinnert, läßt sich den Einbildungen Tom's und Sarah's einige Wahrscheinlichkeit auf glücklichen Erfolg nicht absprechen.

Übrigens müssen wir hinzusetzen, daß Sarah mit einer bewunderungswürdigen Schönheit die verschiedenartigsten Talente und eine um so größere Macht der Verführung verband, als sie neben einem harten Gemüte, einem gewandten und boshaften Geiste, einer vollendeten Verstellungskunst und einem hartnäckigen Charakter einen Schein von einer edeln, warmen und leidenschaftlichen Natur besaß.

Auch ihre körperliche Organisation war eben so perfid.

Ihre großen schwarzen Augen, die unter den ebenholzschwarzen Brauen halb glühten, halb schmachteten, konnten das Feuer der Wollust heucheln; aber die glühende Sehnsucht der Liebe hatte nie ihre kalte Brust bewegt; nie konnte das Herz, nie konnten die Sinne die kaltblütigen Berechnungen dieses schlauen, selbstsüchtigen und ehrgeizigen Weibes stören.

Nach der Ankunft auf dem Kontinente wollte Sarah, wie ihr Bruder es ihr riet, ihre Unternehmungen nicht beginnen,