: Bodo Kirchhoff
: Bericht zur Lage des Glücks
: Frankfurter Verlagsanstalt
: 9783627022983
: 1
: CHF 15.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 608
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Ist es ein Glück oder ein Unglück, dass es mich gibt?' Das fragt sich der ehemalige Zeitungsredakteur auf eine unfassbare Tat hin, inzwischen zurückgezogen an einem fernen afrikanischen Grenzort, um mit einem Bericht Rechenschaft abzulegen. Er erzählt von dem, was ihm in den Wochen zuvor, erst in Kalabrien, dann in Rom, später in Mailand und zuletzt im Schwarzwald zugestoßen ist, nachdem er auf einer Erinnerungsreise - um mit dem Verlust einer Liebe abzuschließen - einer über das Meer geflüchteten Afrikanerin begegnet ist, die, anders als er, noch das Glück sucht und für ihn zur übermächtigen Gegenwart wird. Für ihn ist plötzlich alles in der Schwebe, und doch weiß er: 'Was man am meisten liebt, liebt man schon in dem Gefühl einer Wehmut, des unabwendbaren Endes - der Tag wird kommen, an dem wir uns aus den Augen verlieren, an dem alles gewesen sein wird, von dem an nur noch die Erinnerung zählt.' Bericht zur Lage des Glücks, der neue große Roman von Bodo Kirchhoff, erzählt von einem, der auszieht, das eigene Unglück abzuschütteln, aber anders als erwartet auf die Beine kommt: mit der Chance, von einer Fremden aus seiner eigenen Egosphäre geholt zu werden.

Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Nach seinen von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romanen 'Die Liebe in groben Zügen' (FVA 2012) und 'Verlangen und Melancholie' (FVA 2014) wurde Bodo Kirchhoff für seine Novelle 'Widerfahrnis' (FVA 2016), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, mit dem Deutschen Buchpreis für den besten deutsch-sprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein großer autobio-graphischer Roman 'Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre' (FVA 2018). Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee, wo er mit seiner Frau seit 2003 Schreibseminare gibt. Das Gesamtwerk Bodo Kirchhoffs erscheint in der Frankfurter Verlagsanstalt.

 

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Genussvolles Trinken und der Blick auf etwas Entfesseltes, das einem aber nichts anhaben kann, sind Privilegien, die unsereiner, grob gesagt nördlich der Alpen zu Hause, kaum noch wahrnimmt. Südlich davon kann es schon anders aussehen, und einige Breitengrade über dem Äquator ist fließendes Trinkwasser bereits die Ausnahme, und ein chaotisches Geschehen, das man verfolgt, ohne in Mitleidenschaft gezogen zu werden, eine Illusion – gemeint das Geschehen in einem afrikanischen Grenzort, in dem ich mich seit kurzem aufhalte, um diesen Bericht zu schreiben.

Natürlich hat der Ort einen Namen, wie ja auch der Berichtende einen Namen hat, aber beide Namen sind Schall und Rauch, wenn es darum geht, sich an das zu erinnern, was mich hierhergeführt hat. Und weit mehr als der Name des Ortes spielt seine Lage eine Rolle, nämlich an einem Fluss, anscheinend ideal, was die Wasserversorgung betrifft, nur ist es der Grenzfluss zur umkämpftesten Provinz des Nachbarlandes, umkämpft wegen der dortigen Bodenschätze. Alle Abwässer aus den Minen landen im Fluss, und immer wieder sollen auch Leichen unter der Grenzbrücke hindurchtreiben; über diese gesicherte Brücke führt eine der wenigen Verkehrsverbindungen ins Nachbarland, die Straße, die auch Durchgangsstraße durch den Ort ist – der mir nur langsam vertrauter wird.

Die meisten der rohbauhaften Häuser und Wellblechhütten und auch das einzige kleine, noch im Bau befindliche Hotel, zu erkennen nur an einem selbstgefertigten Schild mit den aufgepinselten Worten Moses’ Hotel, New Private Rooms, drängen sich an dieser Straße aus rötlichem Lehm; und das hatte von Anfang an den Vorteil, dass von einem Zimmer im oberen Stock dieses Hotels im Werden, dem bisher einzig bewohnbaren Zimmer mit einem noch nicht ganz geheuren Balkon, an seinen Vorderecken gestützt von gestapelten Hohlziegeln, doch viel Interessantes zu sehen ist, in den Abendstunden sogar ein entfesseltes Geschehen. Das heißt, man hat auch hier etwas im Blick oder fast vor Augen, das einem nichts anhaben kann – vor meinen Augen, die sich freilich täuschen können, nur sehen, was mir als typisch erscheint, als lohnend genug, um es wiederzugeben.

Da wäre zum Beispiel ein alter Scherenschleifer mit einem ebenso alten Fahrrad, das, wenn es hinten aufgebockt ist und er die Pedale bewegt, einen Schleifstein über dem Gepäckträger antreibt. Er hat mich, den Fremden, bisher so gut wie gar nicht beachtet, wenn nicht bewusst übersehen, trotz meines zaghaften Winkens, wenn er den Blick hebt, und des Interesses an seiner Arbeit, wie er da funkensprühend Messer nachschleift und auch Schlüssel anfertigt, ja sogar, fast nebenbei, Kinderspielzeug aus alten Drähten biegt, das alles am Rande der Durchgangsstraße, wo jeden Morgen ein Marktbetrieb herrscht und sich vom späteren Nachmittag an ein Rückstau von Lastwagen bildet, die vor der Nacht die Grenzbrücke passieren wollen; der Scherenschleifer räumt dann seinen Platz, und gestern hat er mir, eine Premiere, noch ein leichtes Grußzeichen gemacht.

Nur nach und nach gewöhnen sich die Leute hier an den doch sehr abweichenden Anblick meiner Person, was auch daran liegt, dass ich das Rohbauhotel tagsüber kaum verlasse. Noch in der kurzen Dämmerung, wenn sich die Laster vor der Grenzbrücke über den Fluss schon bis in den Ort stauen – der Fluss so verschmutzt, dass die Besorgteren ihr Wasser aus dem Busch holen, wo es Brunnenlöcher gibt –, sitze ich in der Tür zum Balkon und schaue zum Abendhimmel, den Schlieren aus Tausenden von Flughunden, die dorthin ziehen, wo die Schwerlaster hinwollen, ins Nachbarland, Laster mit Tanks voll Kerosin, mit Ladeflächen voller Zementsäcke oder alten Autoteilen, während aus der Gegenrichtung Transporte mit riesigen Baumstämmen kommen, mit magerem Vieh, und manchmal ein Karren nur mit geräucherten Fischköpfen, wie man sie hier am Straßenrand geröstet bekommt. Gekocht wird den ganzen Tag, und sobald gegen Abend der Lastwagenstau in den Ort zurückreicht, sieht man Mädchen oder junge Frauen in blauen Overalls, in der einen Hand Spieße mit gegrilltem Hähnchenfleisch, in der anderen einen Eimer mit Getränkedosen. Beides verkaufen sie an die Fahrer, die von weit her kommen