: Zsóka Schwab
: Orpheustränen Roman
: Zeilenfluss
: 9783967141177
: 1
: CHF 4.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 227
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wärst du bereit, für ein Wiedersehen mit deiner verstorbenen Liebe deinen Verstand zu riskieren? Auch zwei Jahre nach Tristans Tod hat Nessie den Verlust ihres besten Freundes nicht verwunden. Doch eines Abends bietet ihr ein Fremder an Tristans Grab die Lösung: Er gibt Nessie ein Medikament, das Tristan zurückbringt - wenn auch nur als Trugbild. So soll sie ihm endlich ihre Liebe gestehen und Abschied nehmen können. Dies gestaltet sich aber unerwartet schwierig, denn Trugbild-Tristan hält sich nicht nur für real, sondern will zudem herausfinden, was zu seinem Unfalltod geführt hat. Hin und her gerissen zwischen Sehnsucht und Vernunft lässt sich Nessie auf eine Spurensuche mit ihm ein. Tristan ist schließlich der Einzige, der ihr Antworten geben könnte. Aber als Fragment ihrer Fantasie kann er ja nicht mehr wissen als sie. Oder doch? 'Orpheustränen' ist der neuste Roman der New-Comer-Autorin Zsóka Schwab über Freundschaft, Trauer und die Liebe.

1


 

 

An einem Mittwochnachmittag bemerkte ich den Mann zum ersten Mal. Er stand zwischen zwei blühenden Kastanien neben der Straße, fast verdeckt von dem Flügel eines Grabengels: ein kleiner, stämmiger Typ mit Halbglatze. Er trug eine khakifarbene Trekkingjacke und nestelte mit den Fingern, als versuchte er, sie sauber zu rubbeln. Sonst war nichts Besonderes an ihm – außer, dass er den Kopf wegdrehte, als unsere Blicke sich trafen. Er sah eindeutig ertappt aus. Aber warum? Hatte er mich schon länger beobachtet? Wäre mir das nicht aufgefallen?

Nein, schoss es mir in den Sinn. Er hätte sogar noch näherkommen können. Er hätte mich stundenlang anstarren können, denn ich war einfach nichtda gewesen. Nicht wirklich. Wie so oft.

Aber warum sollte er sich gerade für mich interessieren? Auf der Hauptstraße des Friedhofs, unweit von ihm, flanierten noch zwei andere junge Frauen herum: eine rothaarige und eine blonde, beide schlank mit locker hochgesteckten Haaren, die eine im grünen, die andere im rot-gelb geblümten Frühlingskleid. Obwohl von Gräbern umgeben, lachten und schwatzten sie miteinander, genossen die milde Aprilsonne und das Gezwitscher der Spatzen in der Kastanienallee. Sie wirkten hundertmal anziehender als ich, deren gesamte Erscheinung sich mit einem Wort zusammenfassen ließ: grau. Dennoch schien der Mann sie gar nicht wahrzunehmen.

Seine eng beieinanderstehenden Glupschaugen wanderten erneut zu mir. Als er merkte, dass ich ihn immer noch musterte, zog er sich zwischen die Baumstämme zurück.Komischer Kauz

Während ich nachdenklich auf die Stelle starrte, wo er verschwunden war, brummte plötzlich das Handy in meiner Schultertasche.

»Wo bist du?«, meldete sich eine drängende Frauenstimme, als ich ranging.

»Mit wem spreche ich denn?«, fragte ich gespielt doof, um Lulu zu foppen.

»Lass den Unsinn!«, schimpfte meine Mitbewohnerin. »Sag schon, wo steckst du?«

»Äh, im Park«, schwindelte ich. Wo ich wirklich war und was ich hier tat, ging sie nichts an. Ehrlich, ich mochte Lulu, aber sie war die größte Nervensäge der Welt. Man musste sich ganz genau überlegen, was man ihr erzählte, und davon noch die Hälfte verschweigen.

»Wie schnell kannst du in der Bibliothek sein? Fünf Minuten?«

»Schwierig«, murmelte ich und wurde misstrauisch. Lulu war keine große Leserin. »Was hast du ausgeheckt?«

»Ich?«, fragte sie wie die personifizierte Unschuld, und ich sah geradezu vor mir, wie sie ihre topasblauen Kulleraugen aufriss. »Nessie, du kränkst mich! Ich habe mich bloß von meinem Onkel herschleppen lassen, der mich seit zwanzig Minuten ignoriert, weil hier offenbar alles interessanter ist als ich. Nun hocke ich aber auf der Toilette wie ein angestochenes Schwein, wenn du verstehst, und habe nichts dabei. Mein Onkel ist in einem Schwarzen Loch zwischen zwei Buchdeckeln verschwunden, und selbst wenn es ihn wieder ausspuckt, ich kann ihn nicht bitten, zur nächsten Drogerie zu laufen und dort