: Herbert Lehnert
: Thomas Mann. Die frühen Jahre Eine Biographie
: Wallstein Verlag
: 9783835344822
: 1
: CHF 24.20
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 312
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Biographie Thomas Manns, die das Frühwerk in seiner Modernität in den Blick nimmt und dem starken Einfluss seines Bruders Heinrich nachgeht. Diese Biographie konzentriert sich auf die Modernität der frühen Werkel. Diese sind nicht stilistisch, aber inhaltlich modern, weil sie eine Welt mit Widersprüchen annehmen. Thomas Mann orientierte sich zunächst an seinem Bruder Heinrich, der sich stets um Modernität bemühte. Als Herausgeber der antisemitischen Zeitschrift »Das Zwanzigste Jahrhundert« wandte Heinrich sich jedoch einer konservativen Schreibart zu und missbilligte zudem Thomas` Homoerotik und Vorliebe für Schopenhauer. Thomas beteiligte Heinrich daraufhin nicht an der fiktionalisierten Familiengeschichte »Buddenbrooks« und löste damit einen heftigen Bruderzwist aus. In »Fiorenza« stellen die Dialoge die Modernität in Frage, ohne sie aufzugeben. Um 1905 problematisiert Mann in zahlreichen Werken verstärkt die Bürgerlichkeit, unter anderem in »Wälsungenblut« und »Königliche Hoheit«, einer Parodie der konstitutionellen Monarchie. »Der Tod in Venedig« stellt eine neue Epoche des Werkes Thomas Manns dar. Was Thomas Mann seinen Lesern [...] gibt, sind Wörter, die sich zu Beispielen, Szenen, Bildern ordnen, für eine Weise, wie man in einer Welt lebt, die nicht von einem Schöpfergott ein für allemal geordnet [...] wurde, sondern in einer modernen Welt voller Widersprüche. Herbert Lehnert

Herbert Lehnert, geb. 1925 in Lübeck, lehrte seit 1957 an verschiedenen Universitäten Nordamerikas. Seit 1969 wirkte er an der University of California, Irvine, wo er auch seit seiner Emeritierung tätig ist. 1998 wurde er mit der Thomas-Mann-Medaille ausgezeichnet.

Die Briefe an Otto Grautoff I


Eine allzumenschliche Seite des angehenden Schriftstellers Thomas Mann lernen wir kennen in seinen Briefen an den Lübecker Schulfreund Otto Grautoff. ImLebensabriss von 1930 charakterisierte Thomas Mann die Beziehung zu diesem Freund, auf die Schulzeit zurückblickend, so:

Fast während der ganzen Dauer dieser stockenden und unerfreulichen Laufbahn verband mich mit dem Sohn eines fallierten und verstorbenen Buchhändlers eine Freundschaft, die sich in phantastischem und galgenhumoristischem Spott und Hohn über »das Ganze«, namentlich aber über die »Anstalt« und ihre Beamten bewährte.[86]

Die Freundschaft hielt mehr als zehn Jahre über die Schulzeit hinaus und manifestierte sich in Form eines Briefwechsels, von dem nur Thomas Manns Handschriften erhalten sind; sie beginnen im September 1894. Es ist nicht der gesamte Briefwechsel erhalten, einige der Briefe liegen nur zerrissen oder in miserablem Zustand vor.[87] Was erhalten ist, ist unentbehrlich für unser Verständnis von Thomas Mann.

Grautoff war ein Jahr jünger als sein Freund und lange sein Mitschüler. Er kam aus einer gut-bürgerlichen, aber verarmten Familie. Ein Großvater war Bibliotheksdirektor. Grautoff wollte Schriftsteller werden; seine Familie besorgte ihm eine Lehrstelle in einer Buchhandlung in Brandenburg an der Havel. Grautoff hatte im April 1894 diese Lehre begonnen und litt unter seiner eingeschränkten Existenz als armer Lehrling im provinziellen Brandenburg. Thomas Mann dagegen war seine Lehre losgeworden, hatte die ErzählungGefallen geschrieben, die im November veröffentlicht werden sollte und erfreute sich seiner Freiheit.

Obwohl Thomas Mann während des letzten Schuljahres die Freundschaft eines Grafen Vitzthum und einiger anderer Mitschüler vorgezogen und die mit Grautoff vernachlässigt hatte (21, 49), hielt dieser an der Beziehung fest und suchte Rat und Hilfe von Thomas Mann. Auch er wollte schreiben, wollte die Lehre in Brandenburg aufgeben, nach Berlin ziehen und sich dort durch freie Mitarbeit in Zeitungsredaktionen über Wasser halten. In seinem ersten erhaltenen Brief vom September 1894 rechnete Thomas Mann dem Freund realistisch vor, dass er in Berlin mit den geringen Mitteln, die er von seiner Familie bekam, nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Im folgenden Brief vom 22. September spottet er über eine andere Idee Grautoffs, der ihm verkündet hatte, zur Bühne gehen zu wollen. Als »Antrittsrolle« empfiehlt Thomas Mann dem Freund, zwischen Romeo und Julia zu wählen. Nach einer nicht mehr leserlichen, bewusst getilgten Passage heißt es weiter: »und würdest durch wahres Empfinden eine unsägliche Wirkung erzielen, etwa bei den Worten: ›Komm, Nacht … […]‹«. Thomas Mann zitiert aus der deutschen Übersetzung des Monologs der Julia, in ShakespearesRomeo und Julia, dritter Akt, zweite Szene, in der Julia ihr Liebesverlangen ausspricht. Julia sehe nichts als Unschuld in inniger Liebe Tun. Diese Worte unterstreicht Thomas Mann und fügt hinzu: »Verzeih, wenn ich neckisch wurde« (21, 29). Wer den Text des Briefes verstümmelt hat, wollte etwas Peinliches verbergen. Das »Tun in inniger Liebe« im Monolog der Julia ist der Vollzug ihrer heimlichen Ehe. Vermutlich hat Grautoff während der Gespräche in Lübeck über beider homoerotische Sehnsüchte oder in einem seiner Briefe erklärt, dass er seinen Freund Thomas liebe. Ein solches Geständnis würde Thomas’ Gefühl der Überlegenheit gegenüber Grautoff erklären. Auf Thomas Manns Spott muss Grautoff empfindlich und zornig reagiert haben. Thomas schreibt im nächsten Brief, er habe von seinem Freund »wuchtige Schläge« erhalten, dabei habe er nur »Spott und Ulk« ausdrücken wollen (TM / OG, 9). Die Freunde nannten eine satirisch übertreibend