: Helmut Lethen
: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug Erinnerungen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644005327
: 1
: CHF 15.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Angst vor den Bomben, eine Kindheit im Krieg - damit beginnen Helmut Lethens Erinnerungen, die mehr als sieben Jahrzehnte bundesdeutscher Geschichte umspannen: Der Schock, als er mit achtzehn in Resnais' Film «Nacht und Nebel» zum ersten Mal mit dem Holocaust konfrontiert ist. Das Gefühl der Befreiung, als er von Bonn in das viel liberalere Amsterdam zieht. Schließlich das von Aufruhr und Protest aufgewühlte Berlin: Hier demonstriert Lethen 1967 gegen den Besuch des Schahs, und bald agitiert er als Sprecher der Kampagne für ein Kinderkrankenhaus in Kreuzberg an vorderster Front. Die maoistische K-Gruppe schließt Lethen wegen «Versöhnlertums» aus, dennoch trifft ihn der «Radikalenerlass», das Berufsverbot in Deutschland - das sich als unfreiwilliger Glücksfall erweist: In den Niederlanden schreibt Lethen die «Verhaltenslehren der Kälte», in denen er das Verhältnis von Geist und Politik im 20. Jahrhundert auf ganz neue und bis heute aktuelle Weise ausgeleuchtet hat. Helmut Lethen berichtet in seiner Autobiographie, was ihn geprägt hat: von politischen und denkerischen Experimenten, von Weggefährten und Ideengebern wie Adorno und Enzensberger. Ein Entwicklungsroman der Bundesrepublik - wie ihn nur noch wenige Intellektuelle zu erzählen vermögen.

Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch «Verhaltenslehren der Kälte» (1994) gilt als Standardwerk, «Der Schatten des Fotografen» (2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt erschien die vielbeachtete Autobiographie «Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug» (2020).

Teil I


Die Bergdohle


Anfang Januar 2019 bin ich auf 2061 Metern Höhe in der Speiereck-Hütte im Lungau von einem Schneesturm eingeschlossen. Der Betrieb der Gondel vom Großeck her ist eingestellt, die Pisten aufgrund der Lawinengefahr gesperrt. Karin fährt mit meinen drei Söhnen im Tal Ski. Das Gepäck abreisender Gäste wird auf eine Schneeraupe geladen, auf die ich für die im Tal Abgeschnittenen noch einen Rucksack mit Wäsche packe. Mit Neid sehe ich die rauen Jungs aus Berlin trotz Lawinenwarnung auf Skiern im Schneestaub verschwinden. Jetzt bin ich der letzte Gast.

Da der Schneesturm mit über hundert Stundenkilometern um die Hütte fegt, verhängt die Bergwacht Ausgangssperre. Der dichte Schneefall erlaubt keinen Ausblick nach draußen. Ich lege Holzscheite auf das Feuer, das schlecht brennt, weil der Wind auf den Kamin drückt, und bin allein; der Wirt und die Kellnerin wollen sich von der Panik der Berliner Gäste, die überstürzt die Flucht ergriffen haben, erst einmal erholen. Jetzt hätte ich den Abenteuerroman «Die Eingeschlossenen vom Speiereck» schreiben können, aber aufgrund der ungewohnten Höhenlage leide ich unter leichtem Schwindel.

Weil nicht zu erwarten war, dass sich das Wetter bessern würde, stellte der Wirt den Gestrandeten im Tal sein Dachgeschoss in Mauterndorf zur Verfügung. Für unbestimmte, aber sicherlich überschaubare Zeit verlassen, was für ein Glück.

Abends unerwarteter Besuch in der von der Außenwelt isolierten Hütte: fünf leicht vereiste Hiesige mit, so scheint mir, Bergarbeiterlampen auf den Helmen. Sie versammeln sich um das Kaminfeuer, in der Finsternis brechen sie wieder auf zum Abstieg ins Tal. Der Koch brät Lachs, der dem einzigen Gast der Hütte auf einem raffinierten Risottobett serviert wird. In der Sauna wird für den Aufguss gesorgt, und alle sind offensichtlich bester Laune.

«Jeder etwas breitere Riss im Alltäglichen dient als Einfallstor für das Fest», tröstet mich per E-Mail eine Freundin aus dem noch schneefreien München, ein Satz aus Roland Barthes’ «Wie Paris nicht unterging». Tatsächlich ist die Frühstücksstimmung am nächsten Morgen im Kreis der Hüttenmannschaft festlich heiter: Der Koch entdeckt eine Bergdohle am Himmel, das verspricht Aufhellung. Zu erkennen ist sie am schwarzen Gefieder, den roten Beinen und dem gelben Schnabel, zumindest für die Bergbewohner. Im Feld sei sie durch ihren akrobatischen Segelflug auszumachen, wird der Gast informiert.

Der Bruder des Wirts erzählt, er habe einmal Christian Kracht in Argentinien getroffen, wohin übrigens viele Nazis emigriert seien. In Mauterndorf, unten im Tal, wo jetzt Karin und die Jungs ausharren, sei Hermann Göring fast Ehrenbürger geworden – wenn er sich nicht selbst dazu ernannt hätte. Ausnahmslos alle Einwohner Mauterndorfs hätten für den Anschluss gestimmt, was eine Bedingung Görings gewesen sei, um einen im Dorf allseits beliebten Bürgermeister aus der Haft zu entlassen. Die Gräfin Elisabeth von Epenstein übereignete dem Generalfeldmarschall gar Schloss Mauterndorf. Göring revanchierte sich, indem er ihr ermöglichte, die soeben arisierten Gummiwerke von Julius Fromm in Berlin für einen äußerst günstigen Preis zu kaufen. Jetzt war die österreichische Gräfin Herrin der größten Präservativfabrik Deutschlands.

Später kommen wir auf die aktuelle Situation in Österreich zu sprechen. Dass dieFPÖ gegen eine europäische Armee sei, löst Gelächter in der Frühstücksrunde aus – es interessiere keinen Menschen, höre ich, ob Österreich eine Armee habe oder nicht. Schließlich interveniert Laura: Beim Frühstück bitte keine Politik!

 

In eine Wolldecke gehüllt und in schönem Regelmaß mit Glühwein versorgt, begann ich zu lesen. Ein gutes Pensum auf den ersten Blick, das Buch von Thomas Medicus über Melitta Gräfin von Stauffenberg, eine mir bisher unbekannte Sturzkampfbombertestpilotin imNS-Staat, Schwägerin Claus von Stauffenbergs, Ehefrau Alexander von