Aria
Die Frau mit dem Bleifstift las über den Tisch gebeugt in einer Taschenpartitur der Goldberg-Variationen. Der Bleistift war aus edlem, schwarzem Holz und hatte eine Kappe aus schwerem Silber, in der sich ein Anspitzer verbarg. Der Bleistift schwebte über einem leeren Heft. Neben der Partitur lagen Zigaretten und ein Feuerzeug. Und ein kompakter kleiner Metallaschenbecher stand auf dem Tisch, das funkelnde Geschenk eines Freundes.
Die Frau hieß einfach nur »Frau«, vielleicht auch »Mutter«. Es gab Probleme mit der Benennung. Es gab viele Probleme. Im Bewusstsein der Frau waren es vorrangig Probleme mit der Erinnerung. Die Aria, die sie sich ansah, das Thema, zu dem Bach seine Goldberg-Variationen komponiert hatte, erinnerte die Frau an die Zeiten, da sie diese Musik einstudiert hatte. Als die Kinder klein waren. Davor. Danach. Auf solche Erinnerungen war sie nicht aus. Ein Kind auf jedem Schenkel, und dann mit den Armen um die Kinderleiber herum versuchen, das Thema herauszubekommen; im Kleinen Saal des Concertgebouw sitzen, den Pianisten auf die Bühne kommen sehen, atemlos auf die nackte Oktave des Einsatzes warten – den Ellbogen der Tochter spüren: »Mama, das istunser Lied!« Das musste jetzt nicht sein. Sie wollte ausschließlich an ihre Tochter denken. Die Tochter als Baby, als Mädchen, als junge Frau.
Die Erinnerungen waren zu blassen Gemeinplätzen geschrumpft, die niemandes Interesse würden wecken können. Sie konnte nichts über die Tochter erzählen, sie kannte die Tochter nicht. Dann schreib dochdarüber!, dachte sie wütend. Auch die Umgehung ist Bewegung, auch das Negativ zeigt ein Bild. Ob auch die Stille Musik war, wusste sie noch nicht so recht.
Bevor sie sich an den Tisch gesetzt hatte, hatte sie einen Artikel über die Zeitempfindung bei einem südamerikanischen Indianerstamm gelesen. Die Menschen dieses Volkes sahen die Vergangenheit vor sich und spürten die Zukunft im Rücken. Ihr Gesicht war der Geschichte zugewandt, und was noch anstand, kam als unvorhergesehener Überfall. Diese Art der Zeitempfindung spiegele sich in Sprachgebrauch und grammatikalischen Konstruktionen wider, so der Autor des Artikels. Die eigenartige umgekehrte Orientierung war von einem Sprachwissenschaftler entdeckt worden.
Der Frau fiel ein, dass sie die gleiche Geschichte schon einmal mit den alten Griechen in der Hauptrolle gelesen hatte. Doch trotz jahrelangen Unterrichts in griechischer Sprache und Literatur hatte sie davon nie etwas bemerkt. Vielleicht noch zu jung damals. Zu viel Zukunft, undenkbar, die Augen nicht darauf auszurichten.
Die Frau war noch nicht wirklich das, was man eine alte Frau nennen würde, aber ein gutes Stück dem Ende entgegengekommen war sie schon. Sie hatte eine umfangreiche Vergangenheit.
Die Vergangenheit. Das, was vergangen war. Angenommen, man würde wie so ein Indianer ganz selbstverständlich darauf blicken, man würde damit aufwachen, es würde einen den ganzen Tag begleiten, sich als Landschaft für den Traum anbieten. So eigenartig ist das gar nicht, dachte die Frau, eigentlich ist es genau so. Sie schloss die Augen und stellte sich die Zukunft in Gestalt eines Mannes vor, der hinter ihr stand, den sie nicht sah.
Die Zukunft hielt sie mit starken Armen umschlungen, ließ vielleicht sogar kurz das Kinn auf ihr ruhen. Die Zukunft war größer als sie. Lehnte sie sich rücklings an seine Brust? Spürte sie seinen warmen Bauch? Sie wusste, dass er über ihre Schulter mit in ihre Vergangenheit blickte. Erstaunt, interessiert, gleichgültig?
Mit großer Verbundenheit, nahm sie mal gutgläubig an. Er war schließlich ihre persönliche Zukunft. Sie atmete gegen seinen rechten Arm, der über ihrer Brust lag. An ihrem Hals eigentlich. Wenn er diesen Arm etwas weniger krampfhaft um sie legte, bekäme sie mehr Luft. Könnte sie etwas sagen.
Die Zukunft zog sie an sich, so fest, dass sie einen kleinen Schritt zurück machen musste. Und noch einen. Sie widersetzte sich. Die Vergangenheit musste nah bleiben, sie wollte volle Sicht darauf. Der Druck des Arms wurde unangenehm, es schien, als wollte die Zukunft sie mit aller Gewalt mit sich ziehen, sie zwingen, mit