Zürich, 8. Mai 2003
Die Tür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihr ins Schloss. Sie hängte den Mantel umständlich an den Garderobenständer, hielt mitten in ihrer Bewegung inne, unschlüssig, ob sie zuerst die Stiefel ausziehen oder die Tasche auspacken sollte. Das Geräusch der vorbeifahrenden Straßenbahn drang ungewohnt laut von draußen herein, und sie stellte sich vor, wie der weißblaue Waggon gerade in der Kurve hinter den Häusern verschwinden würde. In der Wohnung musste ein Fenster offen stehen, vielleicht hatte sie vergessen, es am Morgen vor dem Weggehen zu schließen. Sie kam von der Arbeit in der Klinik und hatte im Kreislerladen an der Ecke ein paar Kleinigkeiten eingekauft, weil sie wusste, der Kühlschrank war leer. Den ganzen Tag hatte sie kaum Zeit gefunden, etwas zu essen oder zu trinken, und sie spürte den Hunger nicht mehr, der sie am Nachmittag geplagt hatte. Erschöpft ließ sie sich am Küchentisch nieder, knöpfte die Jacke auf und wollte nach einem langen Arbeitstag ihre Ruhe haben, wollte ihre Gedanken ordnen, die unentwegt hintereinander im Kreis jagten. In der Nacht zuvor hatte sie kaum geschlafen und tagsüber unzähligen Patienten zugehört.
Als sie die Stimme ihres Mannes hinter der Tür des Arbeitszimmers am anderen Ende des Ganges hörte, schrak sie auf, denn sie war überzeugt gewesen, er sei in die Stadt gegangen. Sie hatte von der Straße aus kein Licht in den Fenstern der Wohnung gesehen. Die Worte, die durch die Tür seines Zimmers drangen, wurden im Tonfall immer eindringlicher, und als sie seinen Namen rief, stand er auf einmal im Spalt der geöffneten Tür, das Telefon in einer Hand.
»Du bist schon da. Warum hast du nicht angerufen, dass du früher kommst?«
Sie wunderte sich ein wenig, weil er nicht wie üblich aus dem Zimmer gestürmt kam, um sie zu begrüßen, oder ihr durch die geschlossene Tür etwas zurief, sie mit Fragen überhäufte oder mit der Bitte auf sie zustürzte, ihm zuzuhören, und ohne weitere Vorbereitung die letzte Passage eines von ihm verfassten Geschäftsbriefes vorlas. Er wollte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen können, ob sie die Sätze gut fand oder nicht, und beobachtete peinlich genau ihre Reaktion, und sie musste, nachdem er vorgelesen hatte, sofort eine Meinung dazu äußern. Jedes Zögern oder Überlegen deutete er als Kritik. Manchmal stand sie beim Nachhausekommen mit Mantel und Tasche im Vorzimmer und konnte sich nicht bewegen, weil er jeden Versuch von ihr, sich die Schuhe auszuziehen oder den Schal in den Garderobenkasten zu räumen, als Unaufmerksamkeit ihm gegenüber interpretierte. Er war mit der Auflösung seiner Firma beschäftigt, die wenige Jahre nach der Gründung verkauft werden musste, um den drohenden Konkurs abzuwenden. Sein Kompagnon Leo, mit dem er seit dem Studium befreundet war, hatte sich in den Alkohol zurückgezogen und war im Geschäft nicht mehr zu gebrauchen. An seiner Stelle las sie jetzt Briefe an Gläubiger Korrektur oder hörte zu, wenn ihr Mann seinem Ärger Luft machte, weil ihm die Arbeit über den Kopf wuchs. Es schien ihr inzwischen, als arbeitete er Tag und Nacht, und sie wusste nicht recht, was ihn antrieb. Er wollte die Firma rasch auflösen, um sich eine Arbeit suchen zu können, denn von ihrem Geld wollte er nicht leben. Er hätte es als Schande empfunden, von seiner um fünfzehn Jahre jüngeren Frau abhängig zu sein.
»Hast du gerade telefoniert?«
Sie sah ihn mit müden Augen an.
»Nein, ich habe Selbstgespräche geführt. Ich komme gleich in die Küche.«
Er fingerte etwas abwesend an der Türklinke herum und wandte den Blick von ihr ab, und um sie abzulenken, warf er ihr noch eine Frage zu.
»Was gibt es zu essen?«
Sie hatte keine Lust zu kochen und hätte sich lieber im Gasthaus an der Kreuzung gegenüber an einen Tisch gesetzt und etwas bestellt, aber das war nicht möglich. Er lebte sparsam. Es half auch nichts, wenn sie ihn einlud, er ließ es nicht zu und verdarb mit seiner schlechten Laune, die ihn in solchen Momenten überfiel, den ganzen Abend. Sie konnte von ihm auch nicht erwarten, dass er ihr das Kochen abnehmen würde. Er saß am Schreibtisch, bis sie zur Tür hereinkam, und machte dann ein erwartungsvolles Gesicht. Manchmal dachte sie, es liege am Altersunterschied. Er gehörte der Generation an, deren Mütter es als ehranrüchig empfanden, wenn ihre Söhne in Kochtöpfen rührten, a