Jon Dreyer hatte sie alle zum Narren gehalten. Es war der Sommer des Jahres 2008, und er versuchte zu schreiben. Stattdessen betrachtete er Mille.
Das Zimmer, in dem er saß, befand sich im Dachgeschoss von Jenny Brodals baufälliger weißer Holzvilla Mailund, in der die Familie ihre Sommer verbrachte. Es war klein und hell und staubig mit Blick auf die Blumenwiesen und den Wald. Die Frau, mit der er zusammenlebte, die mit dem schiefen Rücken (ein kleiner Knick in der Taille nur), hatte in der alten Bäckerei ein Restaurant eröffnet, nicht sehr groß, mit Platz für zwanzig Gäste. Siri hieß sie. Vierzig Jahre. Tochter der Buchhändlerin Jenny Brodal und des Schweden Bo Anders Wallin, ehemals Inhaber der Steinhauerei WallinAG in Slite auf Gotland, seit langem verstorben. Die Kinder von Siri und Jon: Alma, zwölf, und Liv, fünf.
Siri hatte das Restaurant GloucesterMA genannt, nach dem Fischerstädtchen in Massachusetts, in dem sie und Jon und Alma ein paar Monate verbracht hatten, als Jon den ersten Band seiner Trilogie zu Ende schrieb. Er hatte von einem entfernten und freundlichen amerikanischen Verwandten das Angebot erhalten, dessen großes Haus in Gloucester zu mieten. Die Miete war rein symbolischer Natur gewesen. Dort sollten sie gut drei Monate wohnen, von Juni bis September. Der Verwandte war froh, dass jemand das Haus hütete, während er sich selbst auf einer längeren Reise in Südamerika befand. Das ist ein Zeichen, dachte Jon damals, daran konnte er sich gut erinnern. Dass er das Buch in derselben Stadt zu Ende schreiben durfte, die der Dichter Charles Olson mit seinem Werk unsterblich gemacht hatte.
Es war im Sommer 1999, vier Jahre vor Livs Geburt. Alma war damals drei. Siri wollte, dass sie zusammen nach Gloucester fuhren, und erklärte sich bereit, ihr Restaurant in Oslo dem mehr als kompetenten Geschäftsführer Kajsa Tinnberg und dem Küchenchef Pål Pepper Olsen zu überlassen – ein junger und begabter Koch, der Horror, wenn man in der Küche mit ihm zusammenarbeiten musste (sensibler Perfektionist, beliebt und manisch, seinen Spitznamen Pepper hatte er nach einem fast manisch zu nennenden Manöver mit der Pfeffermühle erhalten), aber mit großem Respekt für Tinnberg.
Ach, wie er damals schreiben konnte.
Jetzt, neun Jahre später, saß Jon am dritten Band, Band eins und zwei waren sehr gut gelaufen, erschienen 2000 und 2002, aber Band drei wollte ihm nicht gelingen, das Buch sollte seit Jahren fertig sein, aber ihm war ständig etwas dazwischengekommen, es hatte nicht geklappt, die Tage vergingen, und er brachte nichts zustande. Vielleicht war er depressiv.
Er besah sich seine Notizen zu Herman R. und schrieb:Die Geschichte eines Mannes, der eine Geschichte erzählen wollte. Weiter kam er nicht. Genau das versuchte er hinzukriegen: Wie schreibt man die Geschichte eines Lebens, was macht ein Leben aus, worin besteht das gelebte Leben, woraus bestehen wir, und wie beschreiben wir es? Auf einen gelben Post-it-Zettel an der Wand hatte er ein Zitat aus einemCharles-Olson-Gedicht gekritzelt:
Ein Amerikaner
ist eine Kombination von Zufällen
War das die Antwort? War das alles?
Er hatte Siri etwas von Charles Olson vorgelesen, als sie in Gloucester waren. Aber sie sagte, Charles Olson gehöre dem Universum der Gottlosen an, einem der vielen Universen, zu denen sie keinen Zugang fand. Die Steinhauerei des Vaters war auch so eines. Es war der Sommer, in dem sie keinen Schlaf fand, nur wenn er ihre Hand hielt und ihr Geschichten erzählte, konnte sie einschlafen. Sie lagen nebeneinander in der Dunkelheit, und er erzählte. Er wollte ihr etwas von der Ruhe zurückgeben, die sie unterwegs eingebüßt hatte; in der Nacht, in der Dunkelheit, inmitten der großen Stille zwischen ihnen wollte er ihr etwas geben, das sowohl ihm als auch ihr gehören konnte. Seine Stimme fand eine Tonlage, die sie nie zuvor gehabt hatte, und er lag neben ihr und nahm sich die Zeit, sich an alles zu erinnern, woran er sich nicht mehr zu erinnern glaubte, an die Einrichtung von Großmutters Wohnung, die anderen Hausbewohner in Frogner, die bunten Kleider der Mutter, im Detail beschrieben, jedes Gesicht auf den Klassenfotos, er schilderte ihr den Schulweg Meter für Meter und jedes einzelne Stück, das man in seiner Kindheit im Lebensmittelladen an der Ecke kaufen konnte, er erzählte und erzählte, Nacht für Nacht, mit derselben monotonen Stimme, von Büchern, die