: Hans Sahl
: Memoiren eines Moralisten - Das Exil im Exil Das Exil im Exil
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641019969
: 1
: CHF 21.40
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 512
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hans Sahls berühmte Erinnerungsbücher in einer Neu-Edition. Hier erzählt Sahl, einer der großen Schriftsteller der deutschen Emigration, von seiner behüteten Kindheit in Dresden und den 20er Jahren in Berlin, von seinem Aufstieg zu einem berühmten Filmkritiker, der mit Bert Brecht, Ivan Goll und Ernst Toller befreundet war, von der Flucht vor den Nazis 1933 und wie er die langen Jahre im Exil verbrachte.

Hans Sahl wurde 1902 als Sohn eines jüdischen Industriellen in Dresden geboren, schrieb ab Mitte der 1920er Jahre Filmkritiken in berühmten Blättern und begann in dieser Zeit auch seine ersten Erzählungen zu verfassen. 1933 musste er fliehen - erst nach Frankreich, dann in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Kulturkorrespondent erst der Zürcher Zeitung, dann der Süddeutschen Zeitung in New York. Er übersetzte Thornton Wilder, Tennessee Williams und Arthur Miller. Seit 1989 lebte der Autor in Tübingen, wo er 1993 starb. Bei Luchterhand sind zuletzt die ersten drei Bände seiner Werkausgabe ('Memoiren eines Moralisten/ Das Exil im Exil', 'Die Gedichte' und der Roman 'Die Wenigen und die Vielen') erschienen.
1 (S. 13-15)

Ein Stadtplan von Dresden, auf dem eine Fliege sitzt. Sie sitzt genau dort, wo ich geboren wurde. Waisenhausstraße. Der ganze Stadtplan steht ihr zur Verfügung, aber sie sitzt auf der Waisenhausstraße und wartet darauf, von mir verscheucht zu werden. Ich schließe die Augen. Ein Sack, durch den grüne Halme wachsen. Jemand hatte über Nacht einen Sack mit Hafer im Garten liegengelassen, es hatte geregnet, und der Hafer war durch den Sack hindurchgewachsen. Im Garten war eine Schaukel, wo grüne Schmetterlinge flatterten um die Schaukel. Der Arzt meint, ich müßte operiert werden. Grüne Schmetterlinge vor den Augen bedeuten nichts Gutes.

»Seit wann sehen Sie grüne Schmetterlinge«, fragt er und spitzt seinen Bleistift. Ich erkläre ihm, daß Grün meine Lieblingsfarbe ist, vielleicht deshalb, weil ich durch Zufall in Dresden geboren wurde. Grün sind meine Augen. Grün war der Hafer, der durch den Sack wuchs, grün die Patina der Gewölbe und Kup peln der Stadt, grün die Gesichter der Massenmörder im Wachsfigurenkabinett auf der Vogelwiese, grün das Samtkleid der Schneiderin, die zweimal in der Woche zu uns kam und für meine Mutter nähte. Die Schneiderin kam zweimal in der Woche zu uns in die Waisenhausstraße, auf der jetzt eine Fliege sitzt, und nähte ein Kleid für meine Mutter.

Es war viel von Schnittmustern, Säumen, Rüschen und Schweißblättern die Rede. Meine Mutter und die Schneiderin hatten den Mund voller Steck nadeln, wenn sie sprachen, und von der Schneiderin ging ein eigentümlicher Geruch aus, der mich erregte. Sie saß, mit zusammengepreßten Lippen, den Mund voller Stecknadeln, in einem Kleid aus grünem, schon etwas abgetragenem Velours und trat die Nähmaschine. Ich hockte im Nebenzimmer auf dem Fußboden und sah durch die offene Tür die Schneiderin die Nähmaschine treten, zuerst langsam, dann schneller, und ich sah, wie die gußeiserne Platte, die sie trat, sich auf und ab bewegte, und mit ihr bewegten sich die langen Beine der Schneiderin bis hinauf zu den Hüften unter dem Kleid aus grünem Velours.

Sie hatte den Rock bis über die Knie geschoben wie eine Radfahrerin und radelte, radelte, radelte die Nähmaschine auf der Stelle. Endlich stand sie auf, kam zu mir herüber und gab mir einen Kuß auf den Mund, sie atmete schwer, und ich sah einen dunklen, feuchten Fleck auf dem grünen Velours unter der Achselhöhle. Ich bin schon einmal operiert worden. Der Arzt in North Carolina war ein Deutscher. Er beugte sich zu mir herunter und sagte: »Die Operation ist gut verlaufen, aber wir sind beide nicht glücklich.«

Dann wurde ich entlassen, und die Schmetterlinge fingen wieder zu flattern an. An heißen Sommerabenden saßen wir oft auf der Brühlschen Terrasse, Kellner zerstückelten mit serviler Ge schicklich keit eine Gans und verteilten sie wie Weihgeschenke über die verschiedenen Teller. Wein aus hohen zierlichen Gläsern, schneeweiß gestärkte Tischtücher, die nach Chlor rochen, eine Violine spielte zum Maronenpüree. Wir gehörten zur besitzenden Klasse. Aber mehr noch als eine Üppigkeit, von der ich bereits früh ahnte, daß sie nicht von Dauer sein würde und daß sie mir nicht zustand, mehr noch als die schweren versilberten Restaurantbestecke und die übertriebene Eile und Dienstfertigkeit der Kellner interessierten mich die Mücken, die über mir um die Laternen kreisten und in ihnen verbrannten.
Inhalt6
Memoiren eines Moralisten8
Das Exil im Exil230
Namenregister502