: Kerstin Hensel
: Im Spinnhaus Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641011062
: 1
: CHF 5.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 256
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Nicht unweit von Dresden, zwischen den Ortschaften Lauter, Neuwelt und Schwarzenberg steht ein ganz besonderes Gebäude mit drei Stockwerken und einem schiefergedeckten Spitzdach: das Spinnhaus. Errichtet um 1860, hat es vielen Menschen eine Heimat geboten, vor allem Frauen. Zu Beginn arbeiteten Spinnerinnen in ihm - »fasernhustend und traumversponnen«. Mit Anbruch des 20. Jahrhunderts kam dann seine große Zeit. Wäscherinnen zogen ein, eigensinnige und zähe Frauen, von denen keine auf die Idee gekommen wäre, die Welt der Frau sei nur der Mann. Genau im Jahr 1900 wird im Spinnhaus die »alte Uhlig« geboren, die Tochter eines Schindelmachers und einer Strumpfstrikkerin. Stumm geht sie durch ihr Leben, wird mit 60 plötzlich schwanger und ist es mit 70 noch immer. Hier lebt Trulla, von der es heißt: »Sie dachte selten daran, daß ihr etwas fehlte.« Hier ziehen das Kaiserreich, die Nazizeit und der Sozialismus ihre tiefen Spuren. Hier wird eine jüdische Mitbürgerin umgebracht, später zieht ein Trupp vermummter Menschen vorbei, Némci, Deutsche, steht auf den Armbinden. Und hier lernt die Mühl-Susanne Herrn Nobis kennen, der aber, nachdem sozialistisch gegrüßt wird, nicht mehr das sein darf, wofür er von ihr geliebt wurde: Spirituosenfabrikant.
Kerstin Hensel erzählt in ihrer bildreichen, sinnlichen und kräftigen Sprache vom 20. Jahrhundert aus der Perspektive einer nur scheinbar kleinen Welt von Frauen, die von den großen Geschichten und dergroßen Geschichte nicht verschont wird.

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: die Liebesnovellen »Federspiel« der Band »Das verspielte Papier - über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte« sowie der Lyrikband »Schleuderfigur«. Kerstin Hensel lebt in Berlin.
Der Dutt (S. 112-114)

Das Haar wurde am Abend, wenn sich Fräulein Charlotte Sonntag zur Ruhe begeben wollte, abgenommen: die Nadeln herausgezogen, der Fitz mit dem Kamm gelöst, der Dutt vom Kopf entfernt, geschüttelt und auf einen hölzernen Ständer vor den Spiegel gesetzt. Charlotte Sonntag bürstete ihr Haar von hinten nach vorn: schüttelte die Haarlackkrümel und den Staub des Tages heraus. Bevor sie zu Bett ging, gab Charlotte dem Dutt einen Kuß. Der Dutt war echt. Echt Menschenhaar. Graubraun, etwas dumpf und glanzlos vom Alter. Der Dutt war das Haar von Fräulein Charlotte Sonntags Mutter: Rosa Sonntag, gebürtig aus Neuwelt, gestorben 1944 in Ravensbrück.

Sie trug einen roten Winkel und die Nummer 12 993. Die vor dem Lager als Lehrerin an der Chemnitzer Schloßschule arbeitete und Englisch Französisch Russisch beherrschte. Die streng an Gott glaubte. Deren Mann vor Warschau im Feld blieb. Die dem »Weltfriedensbund der Mütter und Erzieher« angehörte und eine Taube als Abzeichen trug. Die Frieden, nur Frieden wollte, und ihre Schüler wußten das. Die als »Hochpolitische« abgeführt worden war.

Zusammen mit zweitausend anderen Frauen hatte sie in der Siemens-Kolonne des Konzentrationslagers Spulen gewickelt. Zwölf Stunden täglich an den Spulenwickelmaschinen, Spulen Spulen Spulen, von denen sie erst nicht wußten, wozu sie gut waren, dann aber von Rosa erfuhren, daß sie für eine »Wunderwaffe« benötigt wurden, und plötzlich verschwanden massenhaft kleine Plaste-Spulenkörper, wurden Spulen angesägt, Schrott abgeliefert, die Leistungskurven auf den Karteikarten manipuliert. Rosa betrieb, scheinheilig-dienstbeflissen, auf Englisch Französisch Russisch Sabotage im Werk.

Keiner schöpfte Verdacht, bis Bibi Svoboda, ein Mädchen aus Prag, dem um die Augen tiefe Falten gewachsen waren und das wegen Untauglichkeit »auf Transport« geschickt werden sollte, Rosa Sonntag an den Meister verriet. Vor Bibi wurde Rosa auf Transport geschickt. Von dem sie nie wieder zurückkehrte. Die dreizehnjährige Charlotte, die zu dieser Zeit bei ihrer Großmutter an der Neuwelter Hammerbrücke lebte, bekam eines Tages ein Paket zugestellt.

Darinnen fand sich ein braunes Knäuel, fast ein dreiviertel Pfund schwer: Mutters Haar. Großmutter sagte den Tod an. Wie es seit hundert Jahren üblich war, teilte sie dem Vieh, den Obstbäumen im Garten, dem Griesebach und dem Wald den Tod ihrer Tochter mit. Großmutter tröstete auch Charlotte über den Tod hinweg. Ihr erzählte sie von Engeln und der »schienen Leich«, und daß Mutter jetzt dort sei, wo es ihr gutginge.

Seit dieser Zeit beschloß Charlotte, das Leben ihrer Mutter weiterzuführen. Sie wollte ihr nah, für immer ein Teil dieser Frau sein und all das Unglück rächen, das sie erfahren hatte. Sie glaubte nicht an Großmutters Märchen. Charlotte setzte sich Mutters Braunhaar auf ihre hellen Locken und steckte sie mit Klemmnadeln fest. »Sei ner nette su kinnisch«, sagte Großmutter. Dann mußte sie zusammen mit ihrer Enkelin die Tränen aus den Augen wischen. Fräulein Charlotte Sonntag: seit 1955 Grundschullehrerin an der Neuwelter Schule. Sie trug einen Turm auf dem Kopf.
Der Bär8
Das Spinnhaus10
Sperrgusche Trulla12
Das Waschkind24
Hexenbutter36
Blutbild42
Die Sirene48
Bruslinas57
Clownsfrieden64
Stoppelkopp74
Abziehbilder78
Der Bär86
Bergkgeschrey88
Zuzug104
Die Fiedlern108
Der Dutt113
Kino120
Im Teig128
Versuchungen132
Die Mordgrube146
Der Schnitt147
Antennen161
Traumstau166
Notkochen174
Wendeschleife182
Zeichenstunde201
Der Schandbrief212
Apfelkrieg221
Neuwelt234
Der Bär242
Inhaltsverzeichnis254