: Kerstin Hensel
: Lärchenau Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783894804497
: 1
: CHF 6.80
:
: Erzählende Literatur
: German
: 448
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Ein märkischer Arzt will Nobelpreisträger werden - eine Provinzgroteske als Brennspiegel deutscher Geschichte
Günter Rochus Konarske ist ein angesehener und vollkommen skrupelloser Arzt. Er führt an Menschen Experimente durch, strebt allen Ernstes den Nobelpreis an, und seine Ehefrau kann neben diesem aufgeblähten männlichen Ego nur noch in der Welt der Oper Zuflucht nehmen. Zwei Lebensläufe, in denen der Aberwitz der letzten 60 Jahre deutscher Geschichte in einer Direktheit auflebt, als würde man diese Zeit noch einmal durchleben können.

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: die Liebesnovellen »Federspiel« der Band »Das verspielte Papier - über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte« sowie der Lyrikband »Schleuderfigur«. Kerstin Hensel lebt in Berlin.

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Am 6. September 1944 wurde in Lärchenau, in der Wohnstube des Milchmannes Otto Konarske, dessen lediger Tochter Rosie ein Junge geboren. Unter Musik, die aus dem Volksempfänger klang. Die Hebamme hatte den Radioapparat vom Schrank genommen und ihn neben die Kreißende, die rücklings auf wachstuchgeschütztem Sessel lag, placiert.
»Die Kiste stinkt!« keuchte Rosie.
Sie wollte erklären, daß ihr der Geruch des Bakelits schon immer Übelkeit erzeugt hätte, aber das Geheimrezept der Hebamme lautete: Mit Musik geht alles besser. Auch Hühner, behauptete sie, legen bei Musik größere Eier, Kühe geben mehr Milch.
Der Großdeutsche Rundfunk gab Wagner. An jenem Nachmittag hörte die Gebärende, was ihr, vermischt mit dem Bakelitgeruch, wie ein Wurm in die Seele kroch –Denn der Götter Ende / dämmert nun herauf. Sie quälte sich in den Wehen, mochte den orgelnden Sopran nicht ertragen, denn diese Töne, erinnerte sie sich, hatte der Kindsvater Doktor Lingott verabscheut. Er, der Musikliebhaber, auch wenn er jetzt am Ort der ewigen Stille weilte und Engelskonzerten lauschte. Rosie zerschrie unter den Wehen die nicht endenwollende Arieselig in Lust und Leid / läßt die Liebe nur sein, und einen Moment lang glaubte sie an die große Lüge der Musik.
 

Siebzig Jahre alt war Rochus Lingott gewesen, als er seinen Sohn gezeugt hatte. Der Arzt, der auf so wundersame Weise die Lärchenauer über zwei Weltkriege hinweggetröstet, der für alles eine Medizin, eine Musik oder eine andere Lösung hatte. Der Doktor war ein Mann vornehmer Güte. Schlank, das Haar im Alter voll und weiß. Aufgrund seiner Größe lief er nach vorn gebeugt, zog ein wenig die Schultern ein und sprach mit tiefer weicher Stimme, die aus einem unendlichen Resonanzraum seines Inneren zu kommen schien. Mit Vorliebe trug er helle Leinenhosen und weiße Hemden aus Baumwolle. Selbst auf Beerdigungen erschien er in birkenhafter Frische. Niemand nahm es ihm übel.
Doktor Lingott heilte vornehmlich mit dem, was die Natur bot. Nicht, daß er ein Verächter der Schulmedizin war, aber als Landarzt hatte er das Wissen und den Zugriff auf das, was ihm quasi vor Augen wuchs: heilkräftige Kräuter, Blüten und Beeren. Oftmals empfahl Doktor Lingott versehrten Patienten ein Bad im Mennichensee. Der See, behauptete er, verfüge über eine besondere Algenart, der man eine gesundende Wirkung nachsage. Tatsächlich erreichte der Arzt mit seiner Bademethode Erfolge. Vor allem Brandverletzte und Männer, die mit amputierten Gliedmaßen aus Verdun Warschau Stalingrad nach Lärchenau zurückkehrten, schickte er ins Wasser, wo sie unter Aufsicht einer Krankenschwester ihre verschmolzenen Häute und Stümpfe badeten und danach merklich an Lebensmut gewannen.
Bei weiblichen Patienten bevorzugte der Doktor subtilere Heilmethoden. Wie auf dem Land üblich, besuchte er die Kranken oft zu Hause. Er schwang sich aufs Fahrrad (in späteren Jahren fuhr er einen kleinen Ford), machte sich auf den Weg durch Lärchenau und in die Nachbardörfer. Bei sich trug er eine Ledertasche, die neben medizinischen Untersuchungsgeräten allerhand Beruhigungs- und Belebungstropfen barg. Je nach dem, was die Landfrauen an Beschwerden vorzubringen hatten, flößte ihnen Doktor Lingott pflanzliche Balsame ein. Nachdem sie Wirkung gezeigt hatten, fanden sich die Patientinnen in erlöstem Zustand.
Vor allem den Witwen der Gegend tat der Doktor wohl. Er sprach mit ihnen im tiefen eindringlichen Largo des Wissenden. Er trieb ihnen die Trauer aus, indem er spezielle abendliche Spaziergänge verordnete. So taten es die Witwen: Abends liefen sie in Grüppchen durch Lärchenau, flüsterten, kicherten, hakten sich backfischhaft unter. Wie vorgeschrieben, machten sie vor dem Haus des Doktors halt. Dort begann die Therapie. Aus dem geöffneten Fenster über den Praxisräumen tönte Musik. Doktor Lingott spielte. Auf einem Flügel. Nicht meisterhaft, aber hinreißend. Bach Mozart Beethoven. Manchmal, wenn er glaubte, eine Frau auf der Straße weinen zu hören, wechselte er den klassischen Stil zu springendem reißenden Rag oder Swing, immer wieder wiegenden tröstenden Swing, den er auf die Witwen ansetzte, eine verbotene durchschlagende Medizin, und sie standen unterm Fenster, fingen zu tanzen an, leise, wie v
1. Teil Bub und Spinne6
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2. Teil Rosenkavalier166
3. Teil Der Molch334
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