: Steven Galloway
: Der Cellist von Sarajevo Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641025274
: 1
: CHF 7.20
:
: Erzählende Literatur
: German
: 240
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Musiker trotzt dem Irrsinn des Bürgerkriegs in Sarajevo: Inmitten der Ruinen, dem feindlichen Beschuss ausgesetzt, spielt er auf seinem Cello das Adagio von Albinoni, zweiundzwanzig Tage lang ...

Zu Beginn der neunziger Jahre wird das belagerte Sarajevo aus den Bergen ringsum Tag und Nacht beschossen. Die Bürger der Stadt leben in Angst, Nahrung und Wasser werden knapp. Eines Tages muss ein Mann von seinem Fenster aus mit ansehen, wie eine Mörsergranate zweiundzwanzig Menschen tötet, die vor der Bäckerei unten Schlange stehen. Der Mann ist Cellist, und er trifft eine unglaublich mutige Entscheidung: Jeden Tag um vier Uhr nachmittags zieht er seinen Frack an, setzt sich mit seinem Cello auf die Geröllhalden vor seinem Haus und spielt das Adagio in G-Dur von Albinoni. Zweiundzwanzig Tage lang, zum Gedenken an die Toten.

Die Bürger von Sarajevo hören ihm zu, darunter eine Scharfschützin, ein verängstigter Familienvater und ein einsamer, alter Mann. Sie alle sind verzweifelt, träumen vom alten oder einem neuen Sarajevo, wollen dem Hass und der Furcht entfliehen. Und sie alle werden vom Spiel des Cellisten berührt.

Ein bewegender Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht und der inmitten von Krieg und Zerstörung Zeichen von Hoffnung und Menschlichkeit entdeckt.

Steven Galloway wurde 1975 in Vancouver, Kanada, geboren und ist in Kamloops aufgewachsen. Er war Literaturprofessor an der University of British Columbia und hat bisher vier Romane publiziert. »Der Cellist von Sarajevo« war ein internationaler Bestseller, erschien in dreißig Ländern, kam u.a. auf die Longlist des Scotiabank Giller Prize und des IMPAC Dublin Literary Award. »Der Illusionist« kam auf die Shortlist des Rogers Trust Fiction Prize. Steven Galloway lebt in New Westminster, British Columbia.

Strijela
Strijela zwinkert. Sie wartet schon lange. Durch das Zielfernrohr ihres Gewehrs sieht sie drei Soldaten neben einer niedrigen Mauer stehen. Einer schaut auf die Stadt hinab, als erinnere er sich an etwas. Einer streckt ein Feuerzeug aus, an dem sich ein anderer eine Zigarette anzündet. Offensichtlich haben sie keine Ahnung, dass sie sie im Visier hat. Vielleicht, denkt sie, glauben sie, dass sie zu weit von der Front entfernt sind. Sie irren sich. Vielleicht meinen sie, niemand könnte eine Kugel zwischen den Gebäuden hindurchschießen, die sie von ihr trennen. Sie irren sich wieder. Sie kann jeden von ihnen töten, vielleicht sogar zwei, wann immer sie sich dazu entscheidet. Und bald wird sie sich entscheiden.
Sie ist inmitten der Trümmer eines ausgebrannten Bürohochhauses versteckt, ein paar Meter hinter einem Fenster mit Blick auf die Berge im Süden der Stadt. Für jeden Ausguck wäre es schwer, wenn nicht unmöglich, eine zierliche junge Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren zu entdecken, die sich in den rauchenden Überresten des Alltagslebens verbirgt. Den Bauch an den Boden gedrückt, liegt sie da, die Beine teilweise mit einer alten Zeitung bedeckt. Ihre Augen, groß, blau und strahlend, sind das einzige Lebenszeichen.
Strijela glaubt, dass sie anders ist als die Heckenschützen auf den Bergen. Sie schießt nur auf Soldaten. Die anderen schießen auf unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder. Wenn sie jemanden töten, wollen sie eine Wirkung erzielen, die weit über das Auslöschen eines Menschen hinausgeht. Sie wollen die Stadt morden. Mit jedem Toten bricht ein Stück von dem Sarajevo aus Strijelas Jugend weg, ebenso wie mit jedem von Mörsergranaten zertrümmerten Haus. Diejenigen, die übrig bleiben, haben nicht nur einen Mitbürger verloren, sondern auch die Erinnerung daran, wie das Leben war, bevor die Männer auf den Bergen auf einen schossen, während man die Straße überqueren wollte.
Vor zehn Jahren, als Strijela achtzehn war, hatte sie sich das Auto ihres Vaters geliehen und war aufs Land gefahren, um Freunde zu besuchen. Es war ein strahlend schöner Tag, und der Wagen kam ihr wie lebendig vor, als wären ihre durch ihn umgesetzten Bewegungen eine Art Bestimmung, als geschähe alles genau so, wie es sein sollte. Als sie um eine Kurve bog, kam im Radio eines ihrer Lieblingsstücke, und der Sonnenschein, der zwischen den Bäumen einfiel wie durch Spitzengardinen, erinnerte sie an ihre Großmutter, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Nicht ihrer Großmutter wegen, die damals noch unter den Lebenden weilte, sondern weil sie eine unbändige Lebenslust empfand, eine Freude, die umso stärker war, als sie wusste, dass eines Tages alles zu Ende gehen würde. Es war überwältigend, und es erschreckte sie so, dass sie am Straßenrand anhielt. Hinterher kam sie sich ein bisschen töricht vor und sprach nie darüber.
Jetzt jedoch weiß sie, dass sie nicht töricht war. Ihr wird klar, dass sie ohne einen bestimmten Grund auf den Kern dessen gestoßen ist, was das menschliche Wesen ausmacht. Es ist eine seltene Gabe, zu begreifen, dass das Leben wunderbar ist und dass es nicht ewig währt.
Wenn Strijela also den Abzug durchdrückt und dem Leben eines der Soldaten in ihrem Visier ein Ende setzt, tut sie das nicht, weil sie ihn töten will – obwohl sie das auch nicht bestreiten kann -, sondern weil die Soldaten sie und fast alle anderen in der Stadt um diese Gabe gebracht haben. Die Tatsache, dass das Leben enden wird, ist so selbstverständlich geworden, dass sie jede Bedeutung verloren hat. Aber schlimmer noch ist für Strijela die Erkenntnis, dass das, was sie weiß, und das, was sie glaubt, nicht mehr viel miteinander zu tun haben. Denn obwohl sie weiß, dass ihre Tränen an diesem Tag nicht der lächerlichen Sentimentalität eines jungen Mädchens entsprangen, glaubt sie es nicht recht.
Die Soldaten, die Strijela beobachtet, haben guten Grund, sich sicher zu fühlen. Bei fast jedem anderen Schützen wären sie es auch. Sie sind einen knappen Kilometer entfernt, und das Gewehr, das sie und nahezu alle Verteidiger benutzen, hat eine zu