: Jochen Rinner
: Der Tote im Steinbruch& Der alte Fall Rita Kriminal - Roman
: Tredition
: 9783347412583
: 1
: CHF 4.00
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 468
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jonas Brunner hat, nachdem er langjähriger Hilfskellner mit Abitur war, schließlich doch noch eine Polizeiakademie absolviert. Immer noch ist er Assistent vom Chef, Mädchen für alles - und das schon seit sieben Jahren. Diese ersten Wochen des Berufseinstiegs wurden ihm zum Desaster und verfolgen ihn seither wie eine Endlosschleife. Nun ist er unterwegs, um Kollegen eines entlegenen Polizeireviers bei der Bergung einer Leiche zu helfen. Der Tote entpuppt sich als einsamer, namenloser Pilzsucher, der ausgerutscht und eine Felswand hinabgestürzt ist. Also schickt ihn sein Chef in seinen längst überfälligen Urlaub ... Doch dann wird alles anders. Da ist noch Lilly, seine Frau, die mitten in diese Urlaubsturbulenzen gerät, und sie mischt sich ein.

Nie kann er den Tag vergessen: Jochen Rinner sitzt als Sechstklässler am Küchentisch und soll einen Aufsatz zum Thema Herbst schreiben. In seiner Phantasie sieht er, wie verschieden die herbstfarbenen Blätter zu Boden tanzen --- und aus seiner Feder fließen die Sätze auf das Papier. Als sie den Aufsatz zurückbekommen, fragt der Lehrer ihn, wo er abgeschrieben hat. Nirgends, antwortet er. Aber der Lehrer glaubt ihm nicht und geht wortlos weg... Jahrzehnte später beginnt er im stillen Kämmerlein, noch bevor der turbulente Tag seinen Lauf nimmt, zu schreiben... Nun ist sein zweites Buch entstanden.

- 1 -

Jonas Brunner zog die Haustür zu, hatte schließlich den Mantel an und ging. Die Bö nahm ihm den Atem, trieb den Regen ins Gesicht und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Er zog sie hoch, band sie mit der Kordel fest und bog auf den Weg in den Wald. Bis hier drang der trübe Schein der einzigen Laterne seiner Straße, dann war es dunkel, stockdunkel. Seine Augen sahen den Weg, denn ein wenig von dem Licht der dumpf leuchtenden Nebelglocke über der großen Stadt kroch durch die Buchen bis auf den Weg.

Wenn er sich beeilte, würde er die nächste Bahn erreichen und bald das Quietschen hören, wenn sie die Wendeschleife durch den Wald fuhr.

Seine Füße pflügten durch das nasse Laub und es klang träge und müde: Die Blätter hatten keine Lust zu tanzen.

Jonas Brunner versank in vergangene Bilder, als liefe sein Leben vor sieben Jahren eben wieder vor ihm ab:

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Mit dem Abschluss der Polizeiakademie in der Tasche und der Zusage für seine erste Stelle ist er mit seiner Frau auf Wohnungssuche und sie stehen zusammen vor dem schiefen Gartentor aus Bretterschwarten. Es hängt an einem noch schieferen Pfosten. Eine Weile lang sehen sie in den Vorgarten - zum Haus, irgendwie beklommen, bis Lilly sagt: „Das ist aber wirklich klein!“

„Hm.“

„Ist der Strauch eine Johannisbeere?“

„Ein Hochstamm.“

„Ist der glücklich mit den Brennnesseln bis zum Kinn?“

Die Haustür geht auf und der alte Karl Winter kommt ihnen humpelnd und mit Krückstock entgegen.

Winter, Karl und Gisela, stand im örtlichen Telefonbuch. Seine Frau sei vor vier Jahren gestorben, hatte er am Telefon gesagt.

„Kommen Sie rein, kommen Sie.“ Er bemerkt ihre zögernden Blicke auf das Gartentor: „Nur zu, das tut’s noch“, ist aber mit seinem Stock den kurzen Weg schon gelaufen und öffnet. Das Gartentor quietscht.

Sie hatten alle Maklerseiten durchstöbert, Dutzende Male hatten sie angerufen und waren schon zweimal in der Stadt gewesen, drei Stunden hin, drei Stunden zurück - nichts, immer nichts.

„Jetzt versuchen wir’s auf die altmodische Art“, hatte Lilly entschieden und eine Anzeige im örtlichen Wochenblatt geschaltet:

Gestandenes Paar mit achtjährigem Sohn sucht wegen arbeitsbedingten Ortswechsels kleines Haus

Handynummer dazu: fertig.

Alt sei er und könne nicht mehr – sagte er am Telefon - und seine Tochter wolle ihn bei ihrem nächsten Besuch gleich mitnehmen. Er habe ihr gesagt, wenn schon keiner seiner Enkel ins Haus ziehen wolle, verkaufe er es wenigstens noch selbst, dann würde er mitkommen. Eben habe er die Annonce gelesen und bemerkt: Die letzten beiden Zahlen ihrer Telefonnummer seien der Geburtstag seiner verstorbenen Frau, und jetzt sei er dran.

Ob er das Haus auch vermieten würde, fragte Lilly.

Wenn er schon nicht mehr hier wohnen könne, wolle er sich auch nicht mehr drum kümmern. Er habe mit seinem Schwiegersohn schon über den Preis gesprochen. Den nannte er Lilly auch noch.

Die Stadt und das Polizeipräsidium hatte sich Jonas Brunner fünf Wochen früher, den Brief mit der Zusage für seine erste Stelle noch in der Hand, auf der digitalen Karte von oben angesehen. Der Link war noch auf dem Desktop. Er gab die Adresse ein und zoomte die Markierung langsam näher. Da waren der Vorort und schließlich der Steinweg, der in eine Waldlichtung führte. Dort standen auf der einen Seite des Weges acht wohl nicht allzu große Häuser und gegenüber war ein breiter Streifen grüne Wiese. Der Pfeil wies auf das letzte Haus vor dem Wald.

Karl Winter nimmt sie mit in seine Küche. Auf dem Tisch stehen vier Tassen, eine Packung Kakao und ein Teller mit Gebäck, die Kaffeemaschine dampft. Er lehnt seine Krücke an den Küchenschrank und fragt: „Und der Filius?“

„Daniel haben wir unterwegs zu seinen Großeltern gebracht“, antwortet Lilly. „In den Ferien freut er sich immer auf Oma und Opa.“

„In diesem Alter waren unsere Enkel auch gern bei uns.“ Ein Anflug von Traurigkeit huscht über sein Gesicht als er eine Tasse und den Kakao wieder in den Schrank stellt. Seine Beine machen es ihm wirklich schwer. Er setzt sich ihnen gegenüber an den Küchentisch, üppiges schlohweißes Haar, buschige Krauslocken bis über die Ohren. „Kaffee?“

„Ja“

„Bitte nehmen Sie, die Kekse sind ein Rezept meiner Frau.“ Er schenkt Kaffee ein und schiebt den Teller mit den selbst gebackenen Keksen näher. Noch ehe das Gebäck bei ihnen ist, fragt Karl Winter, wie er das mit dem arbeitsbedingten Ortswechsel verstehen könne.

Jonas Brunner erzählt von der Polizeiakademie. Sein Mentor habe ihn auf diese freie Stelle aufmerksam gemacht. Lieber etwas mehr in der Nähe, habe er ihm geantwortet. Sein Mentor habe aber nur vergnügt mit den Schultern gezuckt.

„Am Abend erzählte ich es meiner Frau. ‚Warum nicht? Probier’s halt‘, kam zurück. ‚Und deine Arbeit?‘, hielt ich ihr entgegen. ‚Findet sich‘, sprach sie. ‚Und Daniel?‘, fragte ich weiter. Aber sie sagte einfach: ‚Dani muss mit, und außerdem würde er nichts dagegen haben, seine Großeltern auch kurz übers Wochenende zu besuchen, die dann ja wirklich fast in der Nähe wohnen würden, und mir wär es auch ganz lieb so.‘“

Karl Winter sieht ihn die ganze Zeit an mit seinen graublauen Augen, mehr blau als grau. Vielleicht fällt das Blau nur wegen des üppigen weißen Haars so auf. Nun rückt er sich auf seinem Stuhl doch ein wenig zurecht und bemerkt: „Sie sehen aber nicht gerade wie ein Langzeitstudent aus.“

„Ich bin jetzt fünfunddreißig und war zur Aufnahmeprüfung dreißig. Die hab ich gerade eben so geschafft - vor allem in Sport war es haarscharf an der Untergrenze. Dass die mich mit dieser Vorgeschichte überhaupt genommen haben…“

„Vorgeschichte? Erzählen Sie.“

Der will’s aber wissen.Warum nicht: „Ich wohnte damals noch bei meiner Mutter und sagte: ‚Ich würde das schon gerne machen, aber die nehmen mich sowieso nicht.‘ Sie fiel mir forsch ins Wort: ‚Bewirb dich doch einfach, wenn du nicht zu faul bist, ein paar Sätze zu schreiben!‘“

„Was haben Sie denn bis dahin so Schlimmes angestellt?“, fragt Karl Winter ziemlich direkt.

„Eher hatte ich wohl überhaupt nichts angestellt. Nach dem Abitur wollte ich meiner Mutter nicht mehr auf der Tasche liegen, wollte weg von zu Hause. Also fragte ich kurzerhand in der nächsten Kneipe, ob sie einen Kellner bräuchten. Brauchten sie, erst aushilfsweise und wenig später war ich fest drin. Daraus wurden elf Jahre und bei meiner Mutter bin ich auch geblieben. In der Zwischenzeit begann ich eine Ausbildung im Fach. Das war aber nur kurz. Ich wollte mir nicht merken, wo welche Gabel zu welchem Anlass hingehört und so. Mein Chef hat mich wieder genommen. Gelegentlich legte ich das Besteck anders. Eine Dame fragte mich einmal: ‚Gehört die Gabel nicht nach links?‘ Ich antwortete: ‚Sie brauchen die Gabel heute unbedingt rechts.‘ Sie ließ sich auf den vergnüglichen Schlagabtausch ein und es schien ihr Spaß zu machen.“ Insgeheim denkt er:An der Höhe des Trinkgeldes gemessen.

Das erzählt er Herrn Winter nicht, auch nicht, dass überhaupt alles Trinkgeld auf die hohe Kante kam, konsequent, die ganzen elf Jahre lang - und nicht nur das Trinkgeld. Am Tag nach Karl Winters Anruf war er bei der Bank, und dieses Geld ist der Grund, warum er schon eine Finanzierungsbestätigung in der Tasche hat, für alle Fälle.

Seine Frau hält sich kurz, weil sie sich wohl eher das Haus ansehen will. Sie habe gleich nach der Schule Physiotherapeutin gelernt, dann sei Daniel gekommen. Sie sei lange alleinerziehend gewesen. Ihren Mann habe sie vor vier Jahren kennengelernt. Als sie das letzte Mal hier waren, hätten sie physiotherapeutische Praxen besucht. Eine habe ihr zugesagt und es habe ihr dort auch gefallen. Dann sieht sie Karl Winter erwartungsvoll an.

„Schauen Sie sich doch erst einmal um. Ins Dachgeschoss müssen Sie allerdings allein hoch, die Treppe hat mir die Freundschaft gekündigt.“

Während sie diese Treppe hinaufsteigen, setzt er sich an den Küchentisch.

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Die Bahn zog kreischend ihre Schleife durch den Wald. Wenn er jetzt einen Schritt zulegte, würde er sie noch schaffen, der Autobahnzubringer war schon zu hören. Aber Jonas Brunner mochte nicht – wozu heute auch? – und während er gemächlich durch das nasse Laub watete, fand er sich im Dachgeschoss von Karl Winters Haus...