Dienstag, der 7. September
Den Geruch des Treppenhauses der alten Ärztevilla hinter sich herziehend, verlässt der Anwalt Günther Abend mit schnellen Schritten das Gebäude. Wie es hier stinkt, erinnert an einen höchst unangenehmen Bereich seiner Tätigkeit als Fachanwalt für Strafrecht. Es ist eine Geruchsmischung aus Verwesung und Desinfektion, ein „Aroma“ der Pathologie.
Als die schwere, mit Messingtafeln verkleidete Tür der großen Villa geräuscharm ins Schloss rauscht, bereichert sich sein Blutkreislauf wieder mit Sauerstoff.
Langsam beginnt der Anwalt und Patient zu registrieren, was sein Psychiater, Dr. Werner Oldenburg, ihm gerade zu vermitteln versuchte:
Um Aufklärung in mein Krankheitsbild zu bringen, muss ich morgen zum Versuch einer „Rückführung in die Vergangenheit“ antreten.
Mit diesem Arzt, dem er gerade seine Befindlichkeiten geschildert hat, war Günther früher einmal befreundet, und nur darum bekam er einen Blitztermin. Auch als Privatpatient hätte er normalerweise ein paar Tage warten müssen. Die Freundschaft war vor einiger Zeit ins Koma gefallen und soll jetzt wiederbelebt werden.
Günther überlegt:
Zahlt die Private Krankenkasse so etwas überhaupt, eine Rückführung? Wohl eher nicht. Einen weiteren Begriff habe ich mir gemerkt, unter kongrader Amnesie soll ich leiden. Sollte das die einzige Erklärung sein, für alle Funktionsausfälle, die ich in der letzten Zeit an mir selbst diagnostiziert habe?
Von mir hat der Halbgott im weißen Kittel eben geredet, nicht von misshandelten Opfern.
In letzter Zeit bin ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Das hat sich zwar schon vor dem Bruch mit meiner Freundin Bianka angedeutet, aber jetzt ist es so intensiv geworden, dass ich mich behandeln lassen muss. Ich bin unkonzentriert, vergesslich, chaotisch und vieles andere mehr.
Am letzten Nachmittag mit Bianka, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass diese Beziehung für mich keinen Sinn mehr macht und dass mir die Zeit fehlt, um aufzuzählen, was mich alles an ihr stört, hatte ich den ersten, zeitlich längeren Ausfall. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es geregnet hat und abends zu kalt war, für einen Tag im September. Es fehlt mir für mindestens eine Stunde die Erinnerung.
Seit zwei Tagen höre ich eine innere Stimme, Biankas Stimme. Wenn ich die nicht höre, dann rieche ihr Parfüm oder finde irgendwas von ihr, mal ein Haar, mal ein Papiertaschentuch oder einen beschriebenen Zettel. Sie muss mir endlich aus meinen Gedanken gehen.
Während Günther immer noch auf dem Parkplatz der Ärztevilla in Richtung seines dort abgestellten Wagens unterwegs ist, fällt ihm auf:
Was ist das hier für eine einsame, unheimliche Gegend am bewachsenen Rand von Bensheim? Im Dunkeln muss es zum Fürchten sein.
Günther ist angekommen und besetzt sein Auto, ein Mercedes der S-Klasse, und sieht kurz in den Autospiegel. Ein gut aussehender Mittvierziger blickt ihm entgegen. Sein Aussehen hat noch keinen Schaden genommen. Äußerlich ist er zufrieden mit sich. Kaltstart, links blinken, Gas und schon ist er in der Spur.
Mit Bianka ist es aus, und das ist auch gut so. Sie hat genau gewusst, wie sehr ich gebunden bin und hätte sich ja besser auf eine Trennung vorbereiten können. Meine altmodische, intolerante Ehefrau duldet eben keine Nebenfrauen. Für diesen Umstand wollte ich mich nicht länger vor Bianka rechtfertigen. Die Trennung war ein Muss und dazu stehe ich auch heute, redet Günther in Gedanken mit sich selbst und rast mit seinem schwarzen Mercedes über den Asphalt der B 47.
Ich habe den Warnschuss gehört, den meine Frau Karla abgegeben hat, und ich habe mein Leben zurück.
Doch lebe ich überhaupt? Oder werde ich nur gelebt?
Günther wartet immer gern, bis die Umstände ihn zwingen, sowohl beruflich als auch privat. Als seine Ehefrau Karla dahinter kam, mit wem er telefonierte, simste, mailte und seine knappe unbeobachtete Zeit verbra