1. KAPITEL
OSTEN
Der Fremde entstieg dem Meer wie ein Wassergeist, barfuß und bedeckt mit den Narben seiner Reise. Er taumelte wie trunken durch die dunstige Gischt, die Seiiki wie Spinnenseide einhüllte.
Die Geschichten der Altvorderen sangen davon, dass Wassergeister dazu verdammt waren, in der Stille zu leben. Dass ihre Zungen geschrumpft wären, ebenso wie ihre Haut, und nur Seetang ihre Knochen umhüllte. Sie lauerten in den Untiefen und warteten darauf, die Unachtsamen ins Herz des Schlundes hinabzuziehen.
Tané fürchtete diese Geschichten nicht mehr, seit sie dem Kindesalter entwachsen war. Jetzt schimmerte ihr Dolch vor ihr im Licht, die Klinge gebogen wie ein Lächeln, und sie richtete ihren Blick auf die Gestalt in der Nacht.
Als sie das Wesen anrief, zuckte es zusammen.
Die Wolken rissen auf und ließen das Mondlicht durch, das sie bislang verborgen hatten. Genug, dass sie ihn sehen konnte, so wie er war. Und hell genug, dass auch er sie sah.
Es war kein Geist. Es war ein Fremder. Sie hatte ihn gesehen, und er war auch kaum zu übersehen.
Er war sonnengebräunt, mit Haar so blond wie Stroh und einem Bart, aus dem das Wasser troff. Die Schmuggler mussten ihn ins Wasser geworfen und ihm gesagt haben, er solle den Rest des Weges schwimmen. Es war klar, dass er ihre Sprache nicht kannte, sie aber verstand ihn gut genug, um zu begreifen, dass er um Hilfe bat. Dass er den Kriegsherrn von Seiiki sehen wollte.
Ihr Herz hämmerte donnernd. Sie wagte nicht zu sprechen, denn wenn sie ihm offenbarte, dass sie seine Sprache verstand, würde das eine Verbindung zwischen ihnen schaffen, und sie würde sich selbst verraten. Verraten, dass sie Zeugin seines Verbrechens war so wie er Zeuge des ihren war.
Denn eigentlich sollte sie in Abgeschiedenheit sein. Sicher hinter den Mauern des Südhauses, bereit sich zu erheben, gereinigt für den wichtigsten Tag ihres Lebens. Jetzt jedoch war sie befleckt. Unwiederbringlich beschmutzt. Und das nur, weil sie noch einmal vor dem Tag der Entscheidung ins Meer hatte eintauchen wollen. Es kursierten Gerüchte, dass der Große Kwiriki jene begünstigte, die den Mut besaßen, sich hinauszuschleichen und während der Abgeschiedenheit die Wogen des Meeres aufzusuchen. Stattdessen hatte er ihr diesen Albtraum geschickt.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie einfach zu viel Glück gehabt.
Und dies war ihre Strafe.
Sie hielt den Fremden mit dem Dolch auf Abstand. Im Angesicht seines bevorstehenden Todes begann er zu zittern.
In ihrem Verstand wirbelten die Möglichkeiten umeinander, jede schrecklicher als die vorige. Wenn sie diesen Fremden den Bütteln übergab, musste sie auch gestehen, dass sie die Abgeschiedenheit gebrochen hatte.
Dann würde der Tag der Entscheidung für sie womöglich nicht kommen. Der ehrenwerte Statthalter von Kap Hisan, dieser Provinz von Seiiki, würde die Götter niemals zu einem Platz rufen, der von der Roten Seuche beschmutzt worden war. Es konnte Wochen dauern, bevor die Stadt wieder als sicher galt, und bis dahin hatte man bestimmt entschieden, dass die Ankunft des Fremden ein schlechtes Zeichen gewesen war und dass erst die nächste Generation von Schülern, nicht ihre, die Chance bekam, Reiter zu werden. Es würde sie um alles bringen.
Sie durfte ihn nicht melden. Und ebenso wenig konnte sie ihn allein lassen. Wenn er tatsächlich die Rote Seuche hatte, würde Tané die ganze Insel in Gefahr bringen, wenn sie ihn unbeaufsichtigt umherstreifen ließ.