: Alex Capus
: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446244276
: 1
: CHF 8.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Von drei Helden wider Willen erzählt Alex Capus in seinem neuen Roman: Vom Pazifisten Felix Bloch, der nach 1933 in den USA beim Bau der Atombombe hilft. Von Laura d'Oriano, die Sängerin werden will und als alliierte Spionin in Italien endet. Und von Emile Gilliéron, der mit Schliemann nach Troja reist und zum größten Kunstfälscher aller Zeiten wird. Nur einmal können die drei einander begegnet sein: im November 1924 am Hauptbahnhof Zürich. Doch ihre Wege bleiben auf eigentümliche Weise miteinander verbunden. Capus treibt seinen Erzählstil des faktentreuen Träumens zu neuer Meisterschaft. Heiter und elegant, lakonisch und zart folgt der Erfolgsautor aus der Schweiz den exakt recherchierten Lebensläufen seiner Helden.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen Léon und Louise (Roman, 2011), Fast ein bisschen Frühling (Roman, 2012), Skidoo (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (Roman, 2013), Mein Nachbar Urs (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), Seiltänzer (Hanser Box, 2015), Reisen im Licht der Sterne (Roman, 2015) und Das Leben ist gut (Roman, 2016).  

Erstes Kapitel


Ich mag das Mädchen. Mir gefällt die Vorstellung, dass sie im hintersten Wagen des Orient-Express in der offenen Tür sitzt, während silbern glitzernd der Zürichsee an ihr vorüberzieht. Es könnte Anfang November 1924 sein, an welchem Tag genau, weiß ich nicht. Sie ist dreizehn Jahre alt und ein großgewachsenes, hageres, noch ein wenig ungelenkes Mädchen mit einer kleinen, aber schon tief eingefurchte Zornesfalte über der Nase. Das rechte Knie hat sie angezogen, das linke Bein baumelt über dem Treppchen ins Leere. Sie lehnt am Türrahmen und schaukelt im Rhythmus der Gleise, ihr blondes Haar flattert im Fahrtwind. Gegen die Kälte schützt sie sich mit einer Wolldecke, die sie vor der Brust zusammenhält. Auf dem Zuglaufschild steht »Constantinople–Paris«, darüber prangen goldene Messingbuchstaben und das Firmenzeichen mit den königlich-belgischen Löwen.

Mit der rechten Hand raucht sie Zigaretten, die im Wind rasch verglühen. Wo sie herkommt, ist es nichts Ungewöhnliches, dass Kinder rauchen. Zwischen den Zigaretten singt sie Bruchstücke orientalischer Lieder – türkische Wiegenlieder, libanesische Balladen, ägyptische Liebeslieder. Sie will Sängerin werden wie ihre Mutter, aber eine bessere. Niemals wird sie auf der Bühne ihr Dekolleté und die Waden zu Hilfe nehmen, wie die Mutter das tut, auch wird sie keine rosa Federboa tragen und sich nicht von Typen wie ihrem Vater begleiten lassen, der stets ein Zahnputzglas voll Brandy auf dem Piano stehen hat und jedes Mal, wenn die Mutter ihr Strumpfband herzeigt, augenzwinkernd ein Glissando hinlegt. Eine echte Künstlerin will sie werden. Sie hat ein großes und weites Gefühl in ihrer Brust, dem sie eines Tages Ausdruck verleihen wird. Das weiß sie ganz sicher.

Noch ist ihre Stimme dünn und heiser, das weiß sie auch. Sie kann sich selbst kaum hören, wie sie auf ihrem Treppchen sitzt und singt. Der Wind nimmt ihr die Melodien von den Lippen und trägt sie ins Luftgewirbel hinter dem letzten Wagen.

Drei Tage ist es her, dass sie in Konstantinopel mit den Eltern und ihren vier Geschwistern in einen blauen Wagen zweiter Klasse gestiegen ist. Seither hat sie viele Stunden in der offenen Tür verbracht. Drinnen im Abteil bei der Familie ist es stickig und laut, und draußen ist es mild für die Jahreszeit. In diesen drei Tagen hat sie auf ihrem Treppchen den Duft bulgarischer Weinberge geschnuppert und die Feldhasen auf den abgemähten Weizenfeldern der Vojvodina gesehen, sie hat den Donauschiffern gewinkt, die mit ihren Schiffshörnern zurückgrüßten, und sie hat in den Vorstädten von Belgrad, Budapest, Bratislava und Wien die rußgeschwärzten Mietskasernen mit ihren trüb erleuchteten Küchenfenstern gesehen, in denen müde Menschen in Unterhemden vor ihren Tellern saßen.

Wenn der Wind den Rauch der Dampflok nach rechts trug, saß sie in der linken Tür, und wenn er drehte, wechselte sie auf die andere Seite. Wenn ein Schaffner sie aus Sicherheitsgründen zurück ins Abteil scheuchte, tat sie, als ob sie gehorchen würde. Kaum aber war er weg, stieß sie die Tür wieder auf und setzte sich aufs Treppchen.

Am dritten Abend waren die Schaffner kurz vor Salzburg von Abteil zu Abteil gegangen, um eine außerfahrplanmäßige Routenänderung bekanntzugeben. Der Zug würde nach Innsbruck abbiegen und Deutschland südlich durch Tirol und die Schweiz umfahren; seit belgisch-französische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschiert waren, gab es für den belgisch-französischen Orient-Express auf der gewohnten Route über München und Stuttgart kaum mehr ein Durchkommen. Die Fahrdienstleiter der Reichsbahn stellten absichtlich die Weichen falsch oder verweigerten der Lokomotive Kohle und Wasser, und in den Bahnhöfen