Boston, 25. September 1869
„Erwarten Sie jemanden, Mrs. Hewitt?“ Nell Sweeney nahm einen Spatel warmen Leims und strich ihn auf die Leinwand, die vor ihr auf der Staffelei stand.
„Für Besucher dürfte es wohl noch ein wenig zu früh sein, möchte ich meinen.“ Viola Hewitt rollte den Rollstuhl fort von ihrem gerade in Arbeit befindlichen Werk – ein Stillleben mit Herbstfrüchten – und kramte in den Farbtuben und terpentingetränkten Lappen auf ihrem Arbeitstisch. „Wo zum Kuckuck habe ich nur meine Uhr gelassen?“
„Ich hole sie dir, Nana“, rief Gracie Hewitt und sprang auf. Sie hatte auf dem Boden des Wintergartens gehockt und mit Kreide die Muster nachgezeichnet, die die Morgensonne durch die großen bleigefassten Fenster auf die dunklen Schieferplatten warf. Mit sicherem Griff klaubte sie die diamantbesetzte Taschenuhr aus dem Gewirr an Malutensilien, ließ den Deckel aufspringen und reichte sie Viola.
Nell, stets ganz die Gouvernante, meinte: „Könntest du uns denn sagen, wie spät es ist, Gracie?“
Angestrengt betrachtete Gracie das Zifferblatt.
„Wo ist der kleine Zeiger?“, fragte Nell und fuhr mit dem Spatel über die straff gespannte Leinwand, um den überschüssigen Leim abzunehmen.
„Auf der Acht.“
„Und der große?“
„Auf der Drei.“
„Und damit wäre es …“
„Acht … hm …“ Gracie runzelte die Stirn. „Halb acht?“
„Viertel nach acht“, sagte Nell.
„Ganz gut für den Anfang“, ließ Viola sich mit ihrer rauen Stimme und dem britischen Akzent vernehmen, während sie einen Klecks Ultramarin in das helle Krapp-Rot auf ihrer Palette mischte. „Nell, meine Liebe, wie kommen Sie darauf, ich könnte zu so früher Stunde jemanden erwarten? Vor zehn Uhr bin ich nicht für Besuch zu sprechen – und zudem nicht gesellschaftsfähig gekleidet.“ Wie auch Nell trug sie ein einen grauen Kittel voller Farbkleckse über ihrem Kleid.
„Es hat an der Haustür geklopft“, sagte Nell und tauchte ihren Spatel wieder in den Leimtopf, der in einem heißen Wasserbad stand. „Haben Sie es nicht gehört?“
„Ich trage meine Ohren nur noch zur Zierde“, erwiderte Viola, während draußen bereits Schritte zu hören waren, die recht gemessen den langen Korridor hinab in Richtung des Wintergartens kamen.
Hodges, der schon etwas betagte Butler der Hewitts, tauchte an der offenen Tür auf und wirkte seltsam zögerlich. „Entschuldigen Sie vielmals die Störung, Mrs. Hewitt, aber Ihr Sohn wünscht Sie zu sprechen.“
„Harry?“, fragte Viola ungläubig. Denn ihr mittlerer Sohn, der einem dekadenten und ausschweifenden Lebenswandel frönte, hatte die letzten anderthalb Jahre in selbst auferlegtem Exil verbracht und keinen Fuß mehr über die Schwelle der Familienresidenz an der Tremont Street gesetzt. Soweit Nell wusste, hatte Viola ihn im Juni dieses Jahres das letzte Mal bei einer Abendgesellschaft im Hause der Pratts gesehen. Damals war zur allgemeinen Überraschung seine Verlobung mit Cecilia Pratt bekannt gegeben worden. Von Violas vier Söhnen waren nur drei noch am Leben, und nur der jüngste, der zweiundzwanzigjährige Martin, lebte noch zu Hause. Und er war es auch, der sich als Einziger eines guten Einvernehmens mit seinen Eltern erfreute.
„Nein, nicht Mr. Harry, Ma’am“, meinte Hodges. „Es ist … Dr. Hewitt. William.“
„Will?“ Ungläubig schaute Viola ihn an, bevor sie sich zu Nell umsah, die ihre Verwunderung zu teilen schien.
Fast sechs Jahre war es her, dass der älteste Sohn der Hewitts zuletzt im Haus seiner Eltern gewesen war. Schon in seiner Kindheit und Jugend war Will weniger ein Teil der Familie gewesen, als vielmehr ein seltener Gast, hatte man ihn doch in jungen Jahren – als er in Gracies Alter gewesen war – nach England verfrachtet, wo er von verschiedenen Verwandten aufgezogen wurde, die ihm recht gleichgültig begegneten. Später hatte er dann eine ganze Reihe von Internaten besucht, womit wohl der Grundstein seiner nunmehr drei Jahrzehnte währenden Entfremdung von Viola und ihrem Gatten gelegt worden war. Im vergangenen Frühjahr, bevor die Hewitts samt ihrer Dienerschaft zur Sommerfrische nach Cape Cod und Will nach Europa aufgebrochen waren, hatte Wills abgekühltes Verhältnis zu seiner Mutter sich