: Franz Hohler
: Der neue Berg Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641082529
: 1
: CHF 8.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 448
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Einer der berühmtesten Schweizer Romane der letzten zwanzig Jahre
Roland hat das Alleinleben satt. Heinz kämpft um die Liebe seiner Ehefrau. Den Gemeindepräsidenten plagt eine unangenehme Kälteallergie - und diese drei Männer sind nicht die einzigen, die sich auf die Entwicklungen in der Nähe des Keltengrabs oberhalb von Zürich keinen Reim machen können: Was bedeuten die Risse, die sich im Erdboden zeigen und langsam größer werden? Daran, dass ein Vulkan ausbrechen könnte und ein neuer Berg aus dem Boden schließen könnte, denkt niemand. Aber eigentlich sollten doch alle gewarnt sein. Die Natur lässt schließlich nicht mit sich spaßen ...
Schullektüre, Auswahlthema zum Abitur

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Alice-Salomon-Preis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über fünfzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag.

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An einem schönen Frühlingsnachmittag rannte ein Mann im blauen Trainingsanzug mit leichten Schritten durch den Wald. Die Sonne schien durch das frische Laub, die Vögel zwitscherten geradezu unglaublich, und der Autobahnlärm weit im Hintergrund klang friedlich und gleichmäßig wie das Rauschen eines Wasserfalls.

Der Mann fühlte sich gut und locker. Es war Montag, er hatte einen freien Tag und genoß es, daß er nicht demselben Rhythmus unterworfen war wie die Mehrzahl der Leute. An Wochenenden beispielsweise war dieser Weg voll von Joggern, da lief er nicht so unbeschwert, sondern hatte immer das Gefühl, er müsse sich mit den andern messen, freute sich, wenn er jemanden überholen konnte, und ärgerte sich über alle, die ihn überholten, besonders über die Frauen.

Jetzt aber waren nur vereinzelt alte Leute unterwegs, zwei graue Spaziergängerinnen drehten sich erschrocken um, als sie seine Schritte hörten, doch sein Kostüm wies ihn als harmlos aus. Der Mann sah in Gedanken den Tag kommen, an dem man in seinem Alter den Wald nur noch im Trainingsanzug betreten durfte, um niemanden zu ängstigen. Er war dreiunddreißig, hatte kurze, schwarze Haare und einen Schnurrbart, und als er nun an den beiden Spaziergängerinnen vorbeizog, ihnen einen Gruß zuwarf, den sie manierlich erwiderten, dachte er, wie sie wohl reagiert hätten, wenn er in einem Sträflingsanzug dahergekommen wäre. In seinem Gesicht jedenfalls gab es keinen Zug, der nicht auch einem Kriminellen oder Entwichenen hätte gehören können, und jedesmal, wenn er für ein Ausweisfoto in einen dieser Automaten ging und nachher seine eingezogenen Schultern und die weit aufgerissenen Augen sah, kam es ihm vor, als habe er das Fahndungsbild eines Terroristen in der Hand.

Dabei hatte er einen Beruf, bei welchem Solidität und Zuverlässigkeit zu den ersten Anforderungen gehörten. Er war Techniker beim Fernsehen, Aufzeichnungstechniker, und wenn seine Maschine nicht lief, gab es kein Fernsehen. Der Beruf war zwar nicht schwierig, aber anspruchsvoll, so, daß er dringend einen Ausgleich brauchte, schwimmen etwa oder velofahren oder einfach durch den Wald rennen.

Der Weg machte nun eine Kurve, und dahinter mußte der Mann einem kleinen Kind ausweichen, das ihm auf seiner Seite entgegenwatschelte, indem es die Hände um eine unsichtbare Lenkstange klammerte und dazu unablässig Motorengebrumm ausstieß. Halb belustigt und halb verärgert machte er einen Bogen um den winzigen Motorradfahrer, welcher so versunken in seine Fahrt war, daß er ihn überhaupt nicht wahrnahm. Ärgerlich war für den Mann die Störung seines Lauftakts, aber als die Mutter des Kindes, die gleich danach mit ihrem leeren Buggy folgte, ein Wort der Entschuldigung sagte, winkte der Mann ab — böse sein war sowieso etwas, das er nicht konnte. Die Frau hatte er übrigens auch schon gesehen samt ihrem Kind, sie war blond, klein und etwas füllig, sehr jung noch und hatte ein Strahlen auf dem Gesicht, als ob es nichts Schöneres auf der Welt gäbe als Mutter zu sein und ein Kind durch den Wald zu treiben.

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