: Kjell Eriksson
: Die Totenuhr Ein Fall für Ann Lindell
: Aufbau Verlag
: 9783841227560
: Ein Fall für Ann Lindell
: 1
: CHF 8.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Tod in der Förde.

Ann Lindell will ein paar unbeschwerte Tage auf Gräsö verbringen, nur eins lässt ihr keine Ruhe: Cecilia Karlsson gilt seit vier Jahren als vermisst, doch jetzt ist sie angeblich zurück auf der Insel. Kurz vor ihrem Verschwinden soll ihr Freund Casper in der Förde ertrunken sein - kein Wunder, dass es Ann nun in den Fingern juckt, dem ungelösten Fall auf den Grund zu gehen. Dabei ahnt sie nicht, dass Cecilia, versteckt in einer Hütte im Wald, einen perfiden Plan schmiedet, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen ... 

»Kjel Erikssons Kriminalromane gehören zu den allerbesten.« Henning Mankell.



Kjell Eriksson, geboren 1953, lebt in der Nähe von Uppsala. Für seinen ersten Kriminalroman um die Ermittlerin Ann Lindell erhielt er 1999 den schwedischen »Krimipreis für Debütanten«. Sein Roman »Der Tote im Schnee« wurde zum »Kriminalroman des Jahres 2002« gekürt, eine Ehrung, die bereits Autoren wie Liza Marklund, Henning Mankell und Håkan Nesser zuteilwurde. Im Aufbau Taschenbuch ist sein Roman »Die Nacht des Feuers« lieferbar.

1


»Das ist ihres.« Die Frau blieb zögernd in der Tür stehen, ehe sie beiseitetrat. Sie war »apart«, dieses Wort fiel Ann jetzt ein, aber mit einem fast mädchenhaften Bewegungsmuster. Ihre bloßen Schultern berichteten von Selbstvertrauen und Stärke.

Ihr Mann war auf der Treppe stehen geblieben und hatte eine Hand auf das Geländer gelegt, mitten in der Bewegung erstarrt, als müsse er zu Atem kommen. Ann betrat das Zimmer, das unerwartet groß war, vielleicht dreißig Quadratmeter, spärlich möbliert. Vor der einen Wand stand ein Bücherregal, gefüllt mit einer Mischung aus alten Bänden in Halbleinen, Buchclubbüchern aus den siebziger Jahren und Taschenbüchern. Es war keine Sammlung, sondern ein zufälliges Sammelsurium von vielerlei Herkunft, dachte sie jetzt. Auf der gegenüberliegenden Seite dominierte ein großes Bett im gleichen massiven Stil wie das Regal. Ein beachtlicher Schreibtisch, die einzige moderne Zutat, stand vor dem Fenster.

»Sie ist sehr ordentlich, das war schon immer so«, sagte die Mutter, und Ann begriff, dass sie sich an Edvard richtete. Die beiden hatten einander sofort verstanden, vielleicht, weil Edvard auf Gräsö lebte. Das hier war nicht ihre erste Begegnung, er hatte den Hof mehrmals zusammen mit Victor besucht.

Ann trat ans Fenster und konnte von dort ein kleines Stück Meer sehen. Eine eingedämmte Bucht und ein für seine ursprüngliche Funktion unbrauchbares Bootshaus, das von der Eindeichung berichtete.

»Sie liebt diese Aussicht«, erklärte der Vater, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte und dicht hinter Ann stand. »Aber jetzt gehen wir nach unten, Gunilla. Mir ist ja klar, dass Sie als alte Polizistin in Ruhe gelassen werden wollen. Um zu denken.«

Ohne weitere Zeremonien verließ er das Zimmer und nahm seine Frau mit ins Erdgeschoss. Sie wäre sicher gern geblieben, um von ihrer Tochter zu erzählen, von deren Leben und Besitztümern. Sie war die Sorte Mensch, die sich über alles verbreitete, das war Ann sofort klar gewesen. Edvard ließ sich auf einem Holzstuhl nieder.

»Er hat zu viele Fernsehserien gesehen«, sagte er, aber Ann war dankbar dafür, dass die beiden gegangen waren. Der Vater hatte vollkommen recht, sie wollte in Ruhe gelassen werden, um sich ohne vorgefasste Meinungen umzusehen, und ohne, dass jemand ihr alles unter die Nase schob.

Schon seit sie und Edvard in Lissabon Folke Åhr begegnet waren, hatte sie ab und zu an Cecilia Karlsson gedacht und was wohl aus ihr geworden sein mochte. Seit vier Jahren verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, wie einer von Edvards Nachbarn es ausgedrückt hatte. Ihr Verschwinden hatte natürlich auf Gräsö großes Aufsehen erregt. Ihre Eltern waren bekannt, Rune Karlsson war ein erfolgreicher Mittelstreckenläufer gewesen, und Cecilias Mutter war mehrfache internationale Meisterin im Bogenschießen.

Folke Åhr verbrachte seine Sommer auf der Insel und hatte nach seiner Pensionierung von der Zentralen Mordkommission angefangen, sich für Cecilias Schicksal zu interessieren. Sein Engagement war nicht geringer geworden, als ein alter Schulkamerad von Cecilia behauptet hatte, sie zweimal in Lissabon gesehen zu haben. Beim ersten Mal hatte er geglaubt, im Estrelapark eine Doppelgängerin vor sich zu sehen, aber als er einige Tage später diese Frau noch einmal erblickt hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass es Cecilia war. Sie war in eine Straßenbahn gestiegen, er selbst hatte auf einer Parkbank gesessen, war sofort aufgesprungen und hatte versucht, die Bahn noch zu erreichen, aber das war aussichtslos gewesen. Die Straßenbahn hatte den Platz verlassen und war verschwunden.

»Sie war es, ganz bestimmt«, hatte er eigensinnig behauptet, als Ann ihn angerufen hatte. Er war offenbar alkoholisiert gewesen, hatte aber versucht, sich zusammenzunehmen. Ann kannte diese Anzeichen sehr gut. Es war ein Problem, das hatte auch Åhr betont, Nils »Blitz« Lindberg war oft betrunken. War er es auch in Lissabon gewesen?

»Wie können Sie so sicher sein?«, hatte Ann Lindell gefragt.

»Der Hintern«, hatte Lindberg, ohne zu überlegen, geantwortet, und sie hatte grinsen müssen. »Sie hat so einen phantastischen Hintern, hatte den immer schon. Diese Formen.« Das hätte sexistisch klingen können, aber er hatte es mit solcher Wärme in der Stimme gesagt, dass ihr klar war, dass sich in dieser Antwort große Liebe verbarg.

»Sie war die Erste in der Klasse, die einenBH tragen musste«, fügte er hinzu, wie um Ann Cecilia Karlssons physischen Vorzüge noch mehr zu verdeutlichen.

»Warum ist sie verschwunden?«, hatte sie gefragt, und die Antwort war nach einem gewissen Zögern gekommen. »Dieser Casper.« Danach war er verstummt, hatte kein weiteres Wort mehr sagen wollen.

Ann erinnerte sich an ihr Gespräch mit »Blitz«, wie der Zeuge auf der Insel genannt wurde, als sie sich einige gerahmte Fotos im Bücherregal ansah. Sie nahm eins nach dem anderen heraus. Es waren die üblichen Bilder von Festen und Partys, und Ann konnte sich davon überzeugen, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Cecilia hatte Kurven, und das auf eine Weise, die zweifellos Männerblicke anzog. Sah sie gut aus? Ja und nein. Das Gesicht hatte sympathische Züge, die dicht sitzenden Augenbrauen verstärkten den Eindruck von Willenskraft. Sie ähnelte einer mexikanischen Künstlerin, an deren Namen Ann Lindell sich nicht erinnern konnte.

Das Regal mit den Fotos und einigen nichtssagenden Ziergegenständen war staubfrei. Ann dachte, dass sie kein solches Arrangement von Fotos ihrer selbst, ihrer Eltern oder ihres Sohnes Erik besaß. War das gut oder schlecht? Sowohl als auch, fand sie. Sie blieb mitten im Zimmer stehen.

»Schau mal hinter den Büchern nach«, sagte Edvard.

Ann fühlte sich an früher erinnert. Damals war es ihr Kollege Sammy Nilsson gewesen, der solche Kommentare und Aufforderungen von sich gab. Sie gehorchte, schob zögernd eine Hand zwischen die aufrechtstehenden Bücher, suchte dann eine Regalfläche nach der anderen ab. Im letzten Fach, hinter Jahrbüchern der Schwedischen Tourismusvereinigung, stieß ihre Hand gegen etwas. Sie ahnte sofort, worum es sich handelte.

»Briefe«, sagte sie und zog vorsichtig eine dünne Sammlung heraus, zusammengebunden mit einer roten Kordel und mit Schleife, was einen backfischhaften Eindruck machte. Edvard erhob sich von seinem Stuhl. »Soll ich?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte, und sie zog vorsichtig an einem Kordelende.

»Nein«, sagte Edvard.

»Wie meinst du das?«

»Das sind ihre.«

»Aber …«

»Überlass das der Polizei«, sagte Edvard. »Oder den Eltern.«

Er hatte nicht unrecht. Wenn Cecilia Karlsson noch lebte oder wenn sie Selbstmord begangen hatte, wäre es im Prinzip eine ungesetzliche Handlung, ihre Briefe zu öffnen. Wenn sie ermordet worden war, war es die Angelegenheit der Polizei.

»Die Adresse ist ein Postfach in Uppsala«, sagte Ann. »Seltsam, sie hat doch auf der Insel gewohnt, hier im Haus?« Sie schlug eine Ecke des obersten Umschlags um und sah dann die anderen an, alle waren an dieses Postfach gerichtet. »Es sind vier Briefe.«

Ihre Blicke begegneten sich. Ann spürte seinen Widerstand. »Ich muss mir das ansehen«, sagte sie.

Er verließ das Zimmer und ging mit schweren Schritten die Treppe hinunter. Sie löste eilig die Schleife, öffnete vorsichtig einen Umschlag und zog eine Briefkarte von edler Papierqualität heraus, mit gekräuseltem Rand und beschrieben in großzügiger Handschrift in geraden Linien. Sie fasste die Karte mit spitzen Fingern an einer Ecke an und las:

Dear!

Das war wirklich nett. Es war wie immer schön, und ich wünschte nur, wir hätten etwas mehr Zeit gehabt. Nur eins hat mich überrascht: was du über die Sache auf Hasselbacken erzählt hast. Ich glaube, Rune hat das alles nicht so gemeint, er hatte sicher einiges getrunken. Denk nicht weiter an dieses Malheur. Können wir uns nächste Woche treffen? Ich muss dann nach Sundsvall. Wir können uns im Knaust einlogieren, du weißt, das Hotel mit der Treppe. Du hast doch wohl irgendwelche Verwandten da oben im Lappenland und kannst behaupten, du müsstest sie...