: Ulrike Renk
: Fine und die Zeit der Veränderung Eine Familie in Berlin
: Aufbau Verlag
: 9783841230607
: Die große Berlin-Familiensaga
: 1
: CHF 8.00
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 544
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

»Fine hat schon früh gelernt, für ihre Träume zu kämpfen und für ihre Überzeugung einzustehen. Das hat mir sehr imponiert.« Ulrike Renk.

1931: Der Alltag im von der Wirtschaftskrise gebeutelten Berlin ist schwer. Fines Mutter Ulla Dehmel gelingt es kaum, für ihre Kinder zu sorgen. Schließlich ist sie gezwungen, Fine und ihre Schwestern bei einer Pflegefamilie auf dem Land unterzubringen. Zunächst ist Fine entsetzt, dass sie Berlin verlassen muss, aber nach und nach arrangiert sie sich mit dem neuen Leben. Dann kommen die Nazis an die Macht, und es zeigt sich, dass Ullas Sorge um ihre halbjüdischen Kinder berechtigt war. Schon bald wird Fine ihr Erbe zum Verhängnis. Wird sie es schaffen, dennoch an ihre Träume zu glauben? 

Über eine junge Frau in dunklen Zeiten und den Mut, aus dem Hoffnung gemacht ist.



Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren Bestsellern Realität mit Fiktion. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, ihre Ostpreußen-Saga, ihre Seidenstadt-Saga sowie zahlreiche historische Romane vor. 'Fine und die Zeit der Veränderung' ist nach 'Eine Familie in Berlin - Paulas Liebe' und 'Ursula und die Farben der Hoffnung', 'Ulla und die Wege der Liebe' der vierte Band ihrer großen Saga um die Dichterfamilie Dehmel. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

Kapitel 1


Berlin, Frühjahr 1926

»Das Kleid ist phantastisch«, sagte Vera zu Ulla und drehte sich im Kreis. »Es ist eine wahre Pracht, Ullala.«

»Danke. Ich würde es aber noch ein wenig kürzen.« Ulla hielt ihre Schwägerin fest, die immer noch durch den Raum tanzte. »Steig mal auf den Stuhl, dann kann ich es abstecken.«

Vera schaute an sich hinab. »Ja, noch etwas kürzer, dann kommen meine Beine besser zur Geltung. Wobei du natürlich alle Blicke auf dich ziehen wirst. Es ist wirklich eine Wucht. Wie du das nur immer hinbekommst?«

»Ich nähe halt gerne.« Ulla lächelte. Sie freute sich schon auf den Samstag, wenn sie mit ihren beiden Schwägerinnen – Lotti und Vera – zum Tanzen in die Stadt gehen würde. Ein neuer Klub hatte aufgemacht – einer von den vielen neuen Klubs, die in Berlin wie Pilze aus dem Boden schossen. Seit einem Jahr lebten sie nun in dem kleinen Häuschen in der Reinerzstraße. Am Anfang war es ihr schwergefallen, sich wieder an die Stadt zu gewöhnen. In Berlin pulsierte das Leben – auf zweierlei Art. Es gab eine bunte, schillernde, aufregende Seite, das Nachtleben und die Kunstszene. Aber es gab auch die düstere, farblose und triste Seite, der Alltag der Arbeiter, Tagelöhner und Obdachlosen. Nachts wurde gefeiert, als gäbe es kein Morgen, aber tagsüber füllten der Qualm der Fabriken, der Rauch der Öfen und die Abgase der Automobile die vollgestopften Straßen, durch die verzweifelte Menschen liefen. Dieser Kontrast faszinierte Ulla genauso, wie er sie entsetzte.

Sie nahm die Stecknadeln in den Mund und steckte den Saum des Kleides ein wenig höher. Als sie fertig war, ging sie prüfend einmal um den Stuhl herum und nickte zufrieden, bevor ihr Blick nach draußen wanderte. Zu dem kleinen Reihenhäuschen, das sie günstig hatten mieten können, weil es neu gebaut worden war und noch trocken gewohnt werden musste, gehörte auch ein Gartenstück. Eigentlich war es dazu gedacht, dass die Bewohner dort ein wenig Obst und Gemüse zur Selbstversorgung anbauten, doch Heinrich hatte eine Reckstange, einen Sandkasten und eine Bank aufgestellt, von der aus Ulla den Kindern beim Spielen zuschauen konnte.

Fine wurde dieses Jahr sechs und würde nach Ostern in die Schule kommen. Ihre älteste Tochter war so vernünftig, dass Ulla ihr oft die Aufsicht über die beiden jüngeren Schwestern überließ. So auch heute. Tim, Veras Sohn, der fast ein Jahr älter war als Fine, saß rücklings auf der Bank und schaute zu dem großen Sportplatz hinter dem Haus, wo einige Männer Fußball spielten. Beate und Neli hockten im Sandkasten, und Fine hatte, wie meist, ein Buch in der Hand. Sie konnte schon ein paar Wörter lesen, aber noch schaute sie sich meist nur die Bilder an.

Vera trat neben Ulla ans Fenster und blickte nach draußen. »Wie groß die beiden schon sind«, sagte sie leise.

»Ja, es ist so wunderbar, zu sehen, wie aus unseren Babys tatsächlich Menschen werden. Wie die Knospe einer Blüte, die sich langsam und vorsichtig öffnet, dann die zarten, seidenweichen Blütenblätter vorsichtig ins Licht streckt, sich dehnt und wächst. Und schließlich wird aus der Blüte eine kleine Frucht – die schon zeigt, was sie später einmal sein wird.« Ulla lächelte. »Fine ist schon eine kleine Frucht – ein Äpfelchen. Ihr Charakter ist schon angelegt. Sie ist selbstbewusst und fröhlich, bewegt sich gerne. Neli dagegen … da steht noch nicht ganz fest, was sie denn sein wird. Vielleicht eine Birne oder ein Pfirsich. Sie ist weicher und verletzlicher als Fine. Manchmal sieht sie nur in die Luft und scheint zu träumen.«

»Und Beate?«, fragte Vera belustigt nach.

»Beate ist ein Sonnenschein. Wie sie sich weiterentwickelt, wird sich zeigen. Aber ich hoffe, dass sie ihr fröhliches Gemüt behalten wird.«

»Und Tim, er ist ein wenig wie sein Vater – künstlerisch sehr begabt. Ich hoffe aber, dass er auf die Allüren verzichten wird.« Vera seufzte.

»Kümmert sich Tetjus eigentlich um Tim?«, fragte Ulla, ohne sie anzusehen.

»Manchmal. Selten. Er hat ja wieder geheiratet und wird bald Vater – das dritte Kind von der dritten Frau. Ich war die erste und habe nun das Nachsehen. Er sagt, er könne sich ja nicht kümmern, weil ich nach Berlin gezogen bin. Aber in Hamburg hatte ich keine Perspektive. Tim vermisst Blankenese immer noch sehr. Allerdings nicht wegen seines Vaters – eine innige Beziehung hatten die beiden ja nie. Er vermisst Isi und vor allem Guste.«

Ulla lachte leise und legte den Arm um die Schulter ihrer Schwägerin und besten Freundin. »Wir alle vermissen Guste – die beste Köchin der Welt. Ich habe die Zeit im Haus deines Vaters und seiner Frau sehr genossen – Guste hat uns immer verwöhnt. Leider haben wir kaum Zeit, um sie zu besuchen.«

»Isi würde euch immer mit offenen Armen aufnehmen, Ullala, das weißt du doch sicherlich. Warum hast du keine Zeit?« Sie sah Ulla nachdenklich an.

»Gut, es ist nicht die Zeit – auch wenn es schwieriger werden wird, sobald Fine zur Schule geht. Es ist … das Geld.«

»Das Geld?« Vera trat einen Schritt zurück und schaute sie überrascht an. »Bei mir ist das Geld knapp, weil ich keine feste Anstellung habe. Ich habe zwar immer wieder Aufträge, aber ein sicheres Einkommen ist etwas anderes. Natürlich ist es hier in Berlin leichter als in Hamburg – deshalb bin ich ja auch umgezogen. Aber ich wünschte, ich hätte einen Ehemann mit einer festen Anstellung – so wie du.«

Ulla senkte den Kopf. »Nicht mehr«, murmelte sie dann und bis sich auf die Lippe. »Heinrich hat die Stelle als Amtsarzt verloren.«

»Bitte was?«, fragte Vera entsetzt. »Was hat mein Bruder getan? Goldene Löffel geklaut? Wie kann man denn so eine Stelle verlieren?«

»Indem man sich mit der Bezirksverwaltung anlegt und Beschwerden veröffentlicht.«

»Beschwerden? Worüber?«

»Nun, wegen der Wohnverhältnisse in Neukölln. Er hat ja recht, nicht umsonst nennt man einige Straßenzüge dortDie Wickelburg. Die Wohnverhältnisse sind miserabel«, sagte Ulla. »Zieh mal das Kleid aus, ich nähe es schnell ab.«

Vera wand sich vorsichtig aus dem Kleid und reichte es Ulla. Der Nähmaschinentisch stand neben dem Fenster. Ulla setzte sich an die Maschine, bewegte die Pedale mit dem Fuß und schon ratterte die Nähmaschine.

»Die Verhältnisse dort sind wirklich prekär. Du kennst die Gegend? Ein Hinterhof reiht sich an den nächsten. Die Sonne kann noch so hoch stehen – ihre Strahlen erreichen den Boden der Höfe nicht. Es gibt kaum sanitäre Anlagen – Gemeinschaftstoiletten auf den Zwischenetagen, die sich die Bewohner teilen müssen. Fließend Wasser manchmal nur an den Wänden. Eine Einzimmerwohnung gilt erst ab sechs Bewohnern als überbelegt. Und viele Wohnungen werden geteilt vermietet – tage- und nachtweise.«

»Tageweise?«, fragte Vera verwirrt nach.

»Ja, für die Tagelöhner. Es gibt Tagschläfer und Nachtschläfer, wusstest du das nicht? Wer nachts arbeitet, hat die Wohnung, meist nur ein düsteres und feuchtes Zimmer, tagsüber gemietet und kann dann dort schlafen und sich vielleicht eine karge Mahlzeit bereiten. Abends geht er dann wieder. Und dann kommen die Nachtschläfer, die tagsüber gearbeitet haben. Manchmal ist die Wohnung für die Nachtschläfer auch an Familien vermietet – die Frau mit den Kindern muss die Wohnung aber tagsüber räumen – für den Tagschläfer.«

»Grundgütiger. Das es so etwas gibt. Das ist ja furchtbar. Ich finde ja schon unsere Wohnung schlimm – wir haben keinen Garten, so wie ihr. Aber immerhin bewohnen wir die Wohnung alleine.«

»Es kommen dort so viele Kinder zur Welt. Heinrich verzweifelt daran geradezu. Die Kindersterblichkeit ist immens und natürlich sterben auch viele Mütter im Wochenbett – das Kindbettfieber grassiert dort genauso wie die Ruhr. Es ist schlimm und er hat mehrere Anträge...