Prolog
Irgendwie sieht meine Tochter fett aus.
Ich weiß, das darf man eigentlich noch nicht mal denken, geschweige denn sagen. Aber ich muss auch gar nichts sagen, sie merkt es an meinem Blick. Ich war schon immer schlecht darin, Gedanken zu verbergen. So auch in diesem Fall.
»Ist was, du guckst so?«, fragt sie mich und ich laufe rot an. Fühle mich erwischt.
»Nein, nichts ist, ich freue mich, dass du da bist, endlich mal wieder. Deshalb schaue ich so. Konnte mich ja kaum mehr erinnern, wie du überhaupt aussiehst. Du warst ja wirklich komplett abgetaucht!«, antworte ich verlegen und versuche zu grinsen, damit es nicht so arg nach Vorwurf klingt. Obwohl der durchaus berechtigt wäre.
Seit drei Monaten habe ich Claudia nicht mehr gesehen und auch selten gesprochen. Sie hätte ausgewandert sein können. Sie verzieht ihr Gesicht, wirkt ärgerlich: »Auf den Kommentar hätte ich gut verzichten können, das braucht man nicht. Jetzt bin ich ja da.« Es tut mir leid. Auch ich hasse es, wenn meine Mutter in diesem ganz bestimmten Ton sagt: dass duuu dich mal meldest. Da muss man den Impuls unterdrücken, das Telefonat sofort zu beenden. Claudia, meine Tochter, räuspert sich: »Ich muss dringend mit dir reden und das geht nun mal, wenn es was Ernstes ist, besser von Angesicht zu Angesicht.«
Oh, mein Gott! Ich bin eine wirklich oberflächliche Person. Wahrscheinlich ist sie so aufgespeckt, weil sie irgendeine grässliche Krankheit hat und Cortison nimmt. Oder ist es Krebs? Aber wird man da nicht eher dünn? Neben meiner Oberflächlichkeit habe ich, wie man merken kann, außerdem einen kleinen Hang zum Drama. Aber nach einer guten Nachricht sieht ihr Gesicht nicht aus. Auch das ist, nebenbei betrachtet, ziemlich rund geworden. Und pickeliger als sonst. Will sie mir mitteilen, dass sie vorhat zu heiraten? Aber wäre eine Hochzeit eine ernste Nachricht? In ihrem Fall würde ich das durchaus so sehen. Sie ist inzwischen zwar vierundzwanzig Jahre alt und seit Jahren mit ihrem Freund Emil zusammen, aber ein bisschen mehr Erfahrung und Abwechslung hätte ich ihr vor der Ehe schon gewünscht. Ich habe prinzipiell nichts gegen ihre Wahl. Emil, er ist der Sohn unserer ehemaligen Nachbarin Tamara, ist kein unsympathischer junger Mann, aber irgendwie alt, obwohl er jung ist. So seriös und auf eine merkwürdige Art gediegen. Spießig könnte man ihn nennen, wenn man es uncharmant ausdrücken möchte. Da meine Tochter schon selbst eine Neigung zur Spießigkeit hat, wäre es gut, sie hätte einen Mann, der das abmildern könnte. Als eine Art Regulativ. Kein Wunder, dass sie so aufgespeckt hat, die beiden sitzen sehr viel zu Hause rum. Und dabei futtern sie wahrscheinlich.
Aber mal ehrlich: Würde sie nicht entspannter und glücklicher aussehen, wenn sie mir die, aus ihrer Sicht, frohe Botschaft einer Verlobung überbringen würde? Selbst wenn sie ahnt, dass ich nur mäßig begeistert sein könnte?
»Was ist los, mein Schatz?«, frage ich ziemlich beunruhigt.
»Ich muss in die Klinik, Mama!«, seufzt sie und ich breite direkt die Arme aus. Sie beginnt zu weinen. Auch mir schießen die Tränen in die Augen. Reiß dich zusammen, Andrea, ermahne ich mich, du musst jetzt stark sein. Das Kind braucht Halt und Trost und keine Mutter, die direkt zusammenbricht.
»Was ist es? Was sagen die Ärzte? Hase, es gibt immer Wege, wir schaffen das!«, bricht es aus mir heraus.
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, schluchzt meine Tochter, »ohne dich und euch bestimmt nicht.«
Ich streichle über ihren Kopf. »Wir schaffen das!«, wiederhole ich und fühle mich wie die Kanzlerin. Mantraartig wiederhole ich den Satz. »Was sagt denn Emil?«, will ich dann, als sie mit dem Schluchzen aufhört, wissen.
»Er weiß es nicht, aber ich glaube nicht, dass er mich unterstützen wird.«
Jetzt bin ich verwirrt. Er ist ein junger Superspießer, aber ich habe ihn immer für verdammt verlässlich gehalten. Das ist ja der Vorteil des Spießigseins. »Wir sind alle an deiner Seite, egal was es ist, wir kriegen das hin. Und natürlich musst du es Emil sagen. Das ist wichtig!«, versuche ich, zuversichtlich zu klingen. Dabei habe ich das Gefühl, man hat mir den Boden