: Helmut Lethen
: Der Sommer des Großinquisitors Über die Faszination des Bösen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644014381
: 1
: CHF 19.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Helmut Lethen stößt auf eine Gestalt, die ihn in den Bann zieht: den Großinquisitor, der in der gleichnamigen Legende Dostojewskis den auf die Erde zurückgekehrten Jesus wie die Häretiker auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen will. Diese Verkörperung des Bösen wird zum Ausgangspunkt und Begleiter, wenn Lethen den Bogen schlägt von den Schwarzen Messen des Fin de Siècle über den Kult des Bösen in den historischen Avantgarden und die französischen «Salonnihilisten» bis in unsere Gegenwart. Denn siehe da: Der Großinquisitor geistert durch die Schriften der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, als Denkfigur der Realpolitik bei Max Weber, als regelrechtes Idol bei Carl Schmitt und bei Helmuth Plessner. Noch in Arthur Koestlers Renegaten-Roman «Sonnenfinsternis» tritt eine Art Inquisition auf und mit ihr das Grauen der Verfolgung politischer Gegner in der Sowjetunion. Wo immer der Großinquisitor auftaucht, wird in Lethens bestechenden Lektüren nicht nur das kalte, moralbefreite Denken erfahrbar, sondern auch die dahinterstehenden historischen Verwerfungen und Brüche. Ein meisterhafter Essay über Macht und Moral - und ein aufregender Ritt durch die Literatur, Philosophie und Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch «Verhaltenslehren der Kälte» (1994) gilt als Standardwerk, «Der Schatten des Fotografen» (2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt erschien die vielbeachtete Autobiographie «Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug» (2020).

Teil IDer Großinquisitor im Fin de Siècle


Die Geschichte beginnt. Iwan Karamasow erfindet die Legende vom Großinquisitor


«Moralische Kommunikation ist nicht schwierig. Außer bei Dostojewski, was seine Werke ihrerseits schwierig, vieldeutig, gedankenschwer macht.»

Jürgen Kaube auf der Titelseite der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», 5. März 2022

Im April 1878 notiert Dostojewski ein «Memento» zu seinem Karamasow-Projekt: «Möchte erfahren, ob es möglich ist, auf den Schwellen unter einem Zug zu liegen, während dieser in voller Fahrt über ihn hinwegfährt. – Nachfragen, die Frau des Verurteilten in der Verbannung (katorga), sie möchte gleich eine Ehe mit einem anderen eingehen – Ob der Idiot das Recht erhält, eine so große Menge angenommener Kinder zu halten, eine Schule hat usw. – Nachfragen über Kinderarbeit in den Fabriken. Über Gymnasien, das Leben in den Gymnasien. – Darüber Recherchen anstellen, ob ein junger Mann, Adliger oder Gutsbesitzer, viele Jahre als Novize im Kloster eingeschlossen sein darf …»[1]

Der flüchtige Blick in dieses Dokument zeugt vom schwindelerregenden Ausmaß des Unternehmens. Das Kapitel des Großinquisitors ist dagegen im Roman nur ein kleines Fragment. Die Ausgangssituation ist schnell umrissen: Die beiden Brüder Iwan, der Zyniker, und Aljoscha, der tiefgläubige Mönch, treffen sich in einem Gasthaus. Iwan zögert: Soll er seinem frommen Bruder die Geschichte vom Großinquisitor erzählen? «Ich bin ganz Ohr», sagt Aljoscha. «Mein Poem heißt ‹Der Großinquisitor›», beginnt Iwan also, «es ist absurd …»[2]

Die Absurdität seiner Geschichte rechtfertigt Iwan mit der langen Tradition christlicher Legenden, in denen Heilige durch die Hölle getrieben werden. Eine der Legenden mit einer «höchst bemerkenswerten Kategorie von Sündern in einem brennenden See» verstört besonders: «Wer in diesen See so tief versinkt, dass er nicht mehr an die Oberfläche auftauchen kann, der ‹ist schon von Gott vergessen›.» Ein «Ausdruck von außerordentlicher Tiefe und Kraft», bemerkt Iwan sarkastisch, denn er glaubt, dass Gott auch ihn vergessen hat.[3] Aber ebendiese «Gnadenlosigkeit» Gottes ist es, die ihn als Atheisten immer noch maßlos erregt.

Seine Geschichte unterscheidet sich von diesen Legenden nicht durch ihre Grausamkeit, sondern durch eine neue Konstellation: «ER», der Heiland selbst, erscheint auf der historischen Bühne des 16. Jahrhunderts. Fünfzehn Jahrhunderte sind vergangen, seitdem Er seine Wiederkehr verheißen hat. Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein: Wunderheilungen stoßen auf allgemeine Skepsis, und «der Teufel schläft nicht».[4] Der Schauplatz ist das spanische Sevilla, auf dem Höhepunkt der Inquisition. Mit seinem «unermesslichen Mitleid» verlangt es Ihn, «wenigstens für einen Augenblick Seine Kinder zu besuchen, und zwar gerade dort, wo die Scheiterhaufen mit den Häretikern prasselten».[5] Am Vorabend sind bei einem prunkvollen Autodafé in Gegenwart des Königs, seines Hofes, der Ritter, der Kardinäle, der «entzückendsten Hofdamen» sowie des Kardinal-Großinquisitors «beinah ein volles Hundert Häretiker auf einmal ad majorem Dei gloriam verbrannt worden».[6]

Die noch immer um die Scheiterhaufen Versammelten