KAPITEL 1
Das Meer lag wie eine graue Plane unter einem blassen Himmel. Nellie spürte nur ein langsames Auf und Ab, während sich das Dampfschiff durch die Wellen schob. Dabei war ihr dieser erste Teil der Reise eigentlich als der stürmischste und beschwerlichste der Überfahrt nach Neuseeland geschildert worden. Seit sie sich am Tag zuvor in Bremerhaven eingeschifft hatten, gab es jedoch kaum Wind, und bislang war auch niemand seekrank geworden. Nellie befand, dass dies ideale Voraussetzungen waren, um sich mit Marias Ansinnen an den Kapitän derAdelinde zu wenden. Er konnte eigentlich nicht zu beschäftigt sein, um sie anzuhören. Ob er ihre Bitte ernst nehmen würde? Walter hatte sich am Morgen eher amüsiert, als Bernhard an ihre gemeinsame Kabinentür geklopft hatte, um ihnen von Marias Problem zu erzählen.
»Sie hat auf dem Boden geschlafen?«, hatte er lachend gefragt.
Bernhard, ein mittelgroßer Mann mit blondem Haar und sanften blauen Augen, hatte den Kopf geschüttelt.
»Natürlich nicht«, hatte er beleidigt erklärt. »Ich habe auf dem Boden geschlafen. Aber ich möchte das ungern während der ganzen Reise tun, und Maria ist mit der Lösung auch nicht sehr glücklich.«
»Sie hat deinen Heiratsantrag aber doch angenommen?«, hatte sich Nellie vergewissert.
Als es am Tag zuvor zur Verteilung der Kabinen gekommen war, hatte Maria sich bereit erklärt, die ihre mit Bernhard zu teilen – obwohl sie die Nähe anderer Menschen gewöhnlich mied.
»Ja«, hatte Bernhard bestätigt. »Allerdings hat sie irgendwann im Laufe ihrer Erziehung zur höheren Tochter verinnerlicht, dass es für eine Frau richtig ist, erst nach der Eheschließung mit einem Mann das Bett zu teilen. Daran will sie sich nun halten.«
Nellie hatte die Stirn gerunzelt. Sie wusste, dass ihre Freundin Maria von einmal getroffenen Entscheidungen kaum abzubringen war – erst recht, wenn es um etwas ging, was sie als richtig oder falsch einschätzte.
»Konntest du nicht damit argumentieren, dass Nellie und ich ebenfalls miteinander schlafen, obwohl wir nicht verheiratet sind?«, hatte Walter gefragt, immer noch amüsiert.
Bernhard hatte das Gesicht verzogen. »Das ist etwas anderes, sagt sie«, hatte er erläutert. »Weil Nellie doch noch mit Philipp verheiratet ist.«
Walter hatte sich an die Stirn gegriffen. »Also Ehebruch ist in Ordnung, dagegen vorehelicher … äh …«
»Ach komm, du kennst Maria!«, war Nellie ihm ins Wort gefallen.
Eigentlich kannte Walter seine jüngere Schwester besser als alle anderen Menschen, außer vielleicht Nellie. »Sie hält sich an Regeln, und das ist auch gut so, sonst würde sie viel häufiger irgendwo anecken. Aber was gedenkt sie denn nun zu tun? Sollen wir doch die Kabinen tauschen?«
Nellie hatte Maria am Vortag angeboten, mit ihr eine Kabine zu teilen, obwohl sie lieber mit Walter zusammen sein wollte. Sie beide kannten sich seit Jahren und standen einander sehr nahe. Nellie akzeptierte Marias Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen.
Bernhard hatte den Kopf geschüttelt. »Sie will heiraten«, hatte er gemeint. »Möglichst heute noch. Der Kapitän soll uns trauen.«
Und hier stand Nellie nun an Deck des Schiffes, ließ sich von den Wellen wiegen und wartete darauf, den Kapitän des Frachters mit Marias Ansinnen zu k