: Hermann Burger
: Simon Zumsteg
: Blankenburg. Unglaubliche Geschichten und andere späte Prosa. Der Schuss auf die Kanzel Erzählungen
: Nagel& Kimche im Carl Hanser Verlag
: 9783312006144
: 1
: CHF 15.20
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die in den letzten Jahren seines Lebens erschienenen Prosabände zeigen Hermann Burger, einen der bedeutendsten Schriftsteller der Schweiz, auf der Höhe seiner Erzählkunst. Wie in seinen frühen Erzählungen sind die Helden der Geschichten in 'Blankenburg', 'Der Schuss auf die Kanzel' und in den 'Unglaublichen Geschichten' Sonderlinge, die auf die Seltsamkeit der Welt mit selbst entwickelten Ordnungssystemen reagieren, oder an Leib und Seele erkrankte Wortkünstler, deren Befreiungsversuche keineswegs immer schlecht enden. Wesentlich ist den Erzählungen Burgers stets ein abgründiger Humor, der die Lektüre bei all den traurig-heroischen Schicksalen der Figuren zu einem außergewöhnlichen Vergnügen macht.

Hermann Burger, geboren 1942 in Aarau/Schweiz, studierte Germanistik und promovierte mit einer Arbeit über Paul Celan. Bereits als Student debütierte er 1967 mit der Gedichtsammlung Rauchsignale. Sein vielbeachteter erster Roman Schilten erschien 1976. Burger war außerdem Privatdozent für Neuere Deutsche Literatur und Feuilletonredaktor. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. 1989 starb Hermann Burger auf Schloss Brunegg im Aargau an einer Überdosis Medikamente.

DER PUCK


 

Ein Eismärchen

 

Nach einer föhnigen ersten Dezemberwoche, die nur Kopfwehschnee gebracht hatte, Kandiszucker an den Straßenrändern, sank das Thermometer und blieb auf zehn Grad minus sitzen. Die Bise trug dazu bei, dass Teiche und Tümpel noch vor Weihnachten zufroren, so dass man bereits am Stephanstag ans Eishockeyspielen denken konnte.

Auf dem Estrich band ich mein Stockblatt mit schwarzem Isolierband ein. Die Klammerschlittschuhe hingen an einer roten Schnur im Gebälk, zwischen Zwiebeln und stiebenden Melissenstauden. Diese Angstgerüche alter Bubenverstecke: Dörrobst, Mottenkugeln und Kernseife. Leider hatte ich wieder keine Hockeystiefel bekommen. Mein Vater, der mit den Kufenüber den See gelaufen war, fand, sie täten ihren Dienst noch lange. Ich musste mit dem Winkelschlüssel beinahe die rostigen Gewinde vermurksen, bis sich die Backen bewegten, und nahm mir vor, die Eisen bei Gelegenheit geschickt zu verlieren, denn sie waren wie alles in unserem Haus gut versichert.

Alle hatten Stiefel seit Weihnachten, Luchsinger sogar rote mit Beinstützen. Im Tor konnten sie mich vielleicht dennoch gebrauchen, als Lückenbüßer. Der Puck in der Schuhschachtel: ich wog ihn in der Hand. Sollte er mit? Nein, sagte ich mir, er ging ja doch nur verloren, und dann war ich der Dumme.

Ein grauer Nachmittag. Ich gabelte meine Kufen auf, bei denen es sich nicht einmal mehr lohnte, den Hohlschliff zu erneuern, und schulterte den Stock. Stein und Bein gefroren. Die Bäume in ihren Gichtkronen sahen aus wie verhexte Nebelscheuchen. Ich hatte vor, zur Kiesgrube hinaufzugehen, denn die Lehmwassertümpel auf den Schuttkegeln unterhalb des Schmulzenkopfes waren beliebte Spielfelder. Das Eisüber dem gelben Brei war zwar dünn, doch es hielt. Nur wenn man zu hart mit dem Stock schlug, kam es vor, dass einer mal einen Schuh voll Lätt herauszog. Sicher hatten die Burschen schon Mannschaften gewählt und angefangen. Spielten sie nicht in der Grube, dann freilich mussten die alten Feuerweiher auf der Hochebene zugefroren sein. Seit Jahren waren sie nicht mehr freigegeben worden.

Am Ausgang des Maschinenwäldchens verließ ich den harten Fußweg und stieg hinauf zur Straße, wo ich das ganze Kiesarealüberblicken konnte. Kein Knochen weit und breit. Die graupeligen Lehmaugen wurdenüberragt vom Schotterturm, dessen geborstene Bretterverschalung von einer dicken, graugrünlichen Mehlschichtüberzogen war. Ein Schrägaufzug mit ausgerenkter Wanne führte bis dicht unters Wellblechdach. Im Innern der abbruchreifen Bude konnte man verschmierte Bestandteile des Schwingsiebs erkennen.

Die Werkstraße führte zwischen den Kiesbergen durch und verlor sich im Abbaugebiet. Zuhinterst eine Baracke, ein festgerammter Löffelbagger. Darüber türmte sich die offene Wand des Schmulzenkopfes.Überhängende Wurzelnester. Es war so still, dass man das Regnen der Steine hörte, dieüber die Eisbärte auf den Geröllkegel kollerten. Die Wracks der Raupenfahrzeuge und Kamintraktoren wirkten wie Trümmer auf einem Schlachtfeld, als ob die Grubenmannschaft mit ihren ungelenken Sauriern und gezahnten Brechschaufeln unermüdlich gegen die Wand angerannt wäre, bis alle Motoren verreckten.

Die Lust zu einem Spaziergang durch die verlassene Kiesgrube war da, doch dann packte mich wieder das Spielfieber, in Gedanken kombinierte ich schon mit Luchsinger, rote Linie, blaue Linie, obwohl wir die Feldabschnitte nie markierten, dafür war bei uns der Winter zu kurz. Ich nahm den Weg durch den Bleiwald, stapfte den Bach entlang, der dumpf zwischen bizarren Eisknollen gurgelte. Weiter oben trat er aus der mannshohen Röhre, die unter dem Kehrichthügel durchführte. Man nannte den gekrümmten Tunnel Rohrnudel, und er war immer wieder Schauplatz nächtlicher Mutproben. Man konnte ihn nur bezwingen, wenn man sich, mit dem Rücken zur Wand, seitwärts Schritt für Schritt vorantastete auf dem schmalen, glitschigen Rand des Kännels. Rutschte man aus, schwemmte einen der Bach bis zum Tanzenbein hinunter.

Nach einer knappen halben Stunde stand ich oben auf der Straße, die sich schnurgerade von den Berghöfen her zwischen den beiden Weihern durchzog. Unten im Tal die Rangiergeräusche auf dem Güterbahnhof. Puffer klirrten aufeinander.Über der Hochebene lag ein bissiger Rauch von Kälte. Nur als schwache Kulisse erkannte ich den Stierenberger Wald, die Lücke mit dem grauen Reservoir.

Am großen Weiher vorbei, dessen Böschung rechter Hand steil anstieg, eilte ich zum unteren, der die Form eines diagonal abgeschnittenen Ovals hatte und auf der Bösmatt lag, jener Wieseüber dem Steilhang des Bleiwaldes, auf der sich die Amateurreiter der Gegend auf die Springkonkurrenzen vorbereiteten. Fragmente eines Stangenoxers im Reiffeld, zwei ausgetretene Trabkreise. Gespielt wurde auf dem unteren Teich, weil der obere des einlaufenden Baches wegen selten ganz zufror. Von weitem schon hörte ich das Knallen des Pucks und sah ich die Mützen und Pullover der Burschen durcheinanderwirbeln.

Doch keiner bemerkte mich, als ich das Bord hinunterschlitterte, durch das verharschte Schilf trat und auf Kauers Tor zuging. Es war mit zwei Steinen markiert. Das Eis dröhnte von den Kufen. Wie erwartet: alle hatten Hockeystiefel an. Luchsinger führte das große Wort. Er hatte den schnellsten Antritt und den härtesten Schuss. Den Torhüter auf der andern Seite erkannte ich nicht, es musste ein Ersatzmann sein. Großartig, wie Luchsinger seine Gegner mit Körpertäuschungen stehen ließ. Erübersetzte links- und rechtsherum, vorwärts und rückwärts kurvend. Rot