: John Dos Passos
: Orient-Express
: Nagel& Kimche im Carl Hanser Verlag
: 9783312005628
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
1921 reiste der später weltberühmte Autor John Dos Passos durch den Orient - schon damals eine hochexplosive Gegend - und hielt seine Eindrücke in einem Tagebuch fest. Diese abenteuerliche Reise führte den damals 25-Jährigen von der Türkei über Georgien, Armenien, den Iran und den Irak bis nach Syrien. Sein packender Bericht liest sich wie eine Mischung aus Abenteuerroman und der hellsichtigen Analyse eines dramatischen Umbruchs, der bis heute fortwirkt. Geschrieben in knapper Präzision, mit ansteckender Neugier und Beobachtungsgabe, ist das Werk, mit dem Dos Passos dabei war, zu einem der wichtigsten Schriftsteller der amerikanischen Moderne zu werden, jetzt erstmals auf Deutsch zu entdecken.

John Dos Passos (1896-1970) ist neben Ernest Hemingway und Scott Fitzgerald einer der wichtigsten Autoren der amerikanischen Moderne. Nach seinem Studienabschluss in Harvard reiste Dos Passos 1916 nach Spanien, schrieb seinen ersten Roman und diente freiwillig in der Sanität der französischen Armee. Nach dem Krieg reiste er als Journalist und Schriftsteller durch Europa, den Nahen Osten und den Kaukasus. Dies inspirierte ihn u.a. zum Reisejournal Orient Express, das 1927 erschien. Dos Passos' erster großer Erfolg war der Großstadtroman Manhattan Transfer von 1925. In den Dreißigerjahren folgte die Romantrilogie U.S.A. Der enttäuschte Sozialrevolutionär Dos Passos zeichnet darin ein düsteres Sittengemälde Amerikas. Während des Zweiten Weltkriegs reiste er erneut als Kriegsberichterstatter nach Europa. 1947 wurde er in die Amerikanische Akademie für Kunst und Literatur gewählt. Insgesamt schrieb er mehr als vierzig Romane, daneben Essays, Gedichte und Theaterstücke.

I   NACH OSTEN


1. Pico


Hoity-toity

Cha de noite

Sea’s still high

An’ sky’s all doity

 

sangen sie, hielten sich dabei am Bartresen fest und bekämpften die Seekrankheit mit Madeira. Die anderen Passagiere saßen, grün im Gesicht, auf der Bank gegenüber. Jedes lange Rollen derMormugão endete mit einer ruckartigen Bewegung und einem bedenklichen Rattern aus der Richtung des Maschinenraums. Draußen brüllte der Wind, Gischt flog, und immer tiefer versank das Schiff in den Wellentälern. Drinnen wurde der Madeira in der dunkelbraunen Flasche immer weniger, und immer lauter sangen die ostwärts fahrenden Amerikaner in die schiefen erbsgrünen Gesichter der aufgereiht dasitzenden Passagiere

 

Sea’s still high

An’ sky’s all doity.

 

Später fahren wir bei leichtem Seegang, hinter uns ein feuchter Westwind. Der ganze Madeira ist ausgetrunken. Himmel und Meer verschwimmen zu einem endlos weiten Dunstschleier, distelsilbern im verborgenen Mondlicht. In diesem Schleier bläst der feuchtnasige Wind den Frühling ostwärts, der als Regen auf Lissabon, San Vicente und Madrid fällt, in Marseille und Rom an die Fenster trommelt, auf überwucherten Friedhöfen in Stambul das Unkraut antreibt. Hin und wieder bricht der Dunstschleier auf, und ein winziger runder Mond zeigt sich inmitten wirbelnder Wolkenfetzen, die bauchige Klumpen und lange dünne Streifen bilden, hell und zerknittert wie Silberpapier.

Zitternd gräbt sich der Bug in jeden neu daherkommenden Berg. Eine Bö verbirgt den Mond, spritzt mir nervös Regen auf den Kopf und eilt weiter, hinterlässt Streifen von klarem Mondlicht im Osten, wo die Inseln sind. Dann sind wir wieder eingehüllt in distelfarbenem Dunst. Zusammengerollt schlafe ich im V des Bugs ein.

Als ich die Augen öffne, hat sich der Wind gelegt. Nur ein paar Wolkenfetzen treiben in Richtung Osten. Die See liegt hell und quecksilberschwer unter dem stillen Mond. Kein Laut kommt über das Wasser, dafür ein immer stärker werdender Geruch, der mir in einem Schwall orientalisch warmer Luft entgegenschlägt, ein Geruch von Rosen und sonnengetrocknetem Dung, unangenehm wie Stinkkohl, darüber Hyazinthen, die Schärfe von Moschus und die kühle Lieblichkeit von Veilchen. Stunden später sahen wir im Osten, wolkenumhüllt, den dunklen Kegel des Pico1.

2. Gare Maritime


In Ostende legt die Fähre vor einem wuchtigen schwarzen Hotel an. Die Passagiere nach Mitteleuropa und dem Orient treten, nachdem sie die Pass- und Zollkontrolle passiert haben, durch die hohe, tragisch schwarze Tür in einen großen Speisesaal, in dem einige spärliche runde Tische stehen. Sie setzen sich an die Tische, der Klang von Unterhaltungen in mehreren Sprachen dringt bis an die hohe Kassettendecke und hinaus in die Dunkelheit des regengepeitschten Hafens. Rasch wird bestellt und gegessen, gelegentlich ein unruhiger Blick zur Uhr. Sobald die Leute fertig sind, nehmen sie in den verschiedenen Zügen ihre Plätze ein, die sie zuvor mit Gepäckstücken belegt haben. Die Züge sind fast leer, die hohen Hotelfenster mit dunkelgrauen Läden sind verschlossen, die weiten Flächen des Hafens sind leer. Ein Schaffner mit goldener Litze an der Mütze geht auf dem Bahnsteig auf und ab und streicht sich bisweilen über seinen rostfarbenen Schnurrbart.

Am anderen Ende des Bahnsteigs, neben einem Automaten, ist ein Thermometer, laut roter Aufschrift von einem Monsieur Guépratte konstruiert, das die Kälte in Celsius, Fahrenheit und Réaumur anzeigt und außerdem kleine informative Hinweise liefert, wie etwa den, dass 60° die durchschnittliche Temperatur in Pondichéry ist, 35° die angenehmste für ein gewöhnliches Bad, Seidenraupen sich bei 25° am wohlsten fühlen und auch Krankenzimmer.

Es ist noch nicht Abfahrtszeit. Der amerikanische Orientreisende geht zurück durch das Schicksalsportal in das leere Restaurant, wo in arktischer Stille ein Kellner verloren an einem Tisch steht und wie ein Pinguin von